Erinnern ans Ende (Teil I)

Im Mai 1945 ereignete sich im südböhmischen Soběslav ein Nachkriegsverbrechen. Nichts erinnert heute mehr an die Opfer.

František Krákora hat erst nach dem Krieg die ersten Toten gesehen. Seine Heimat, die südböhmische Kleinstadt Soběslav, war während des Zweiten Weltkriegs von Kampfhandlungen verschont geblieben. Jetzt, als die Deutschen bereits kapituliert und die Sowjets die Ortschaft befreit hatten, hielt die Gewalt Einzug in die 1300-Seelengemeinde. Zahlreiche deutsche Soldaten hatten die Flucht nach Österreich oder in die amerikanische Besatzungszone nicht geschafft und sich in den umliegenden Wäldern versteckt. Als Mitglied einer Revolutionären Garde hatte Krákora die Aufgabe, einige Gefangene zum Sammelplatz am Stadtrand zu führen. Sie folgten Krákora widerstandslos.

Beim Moorgebiet, das als Sammelplatz für die gefangenen Soldaten diente, zeigte sich der Gruppe ein schauderhaftes Bild. Die ehemaligen Besatzer wurden von den Stadtbewohnern und Rotarmisten schikaniert, verprügelt und gedemütigt. Ein Holzverschlag diente als Hinrichtungsstätte. Dahinter lagen Leichen, mit Folterspuren an Händen und Gesichtern. Soldaten wurden gezwungen, ins schlammige Wasser zu liegen und mit dem Kopf unterzutauchen. Einige wurden dabei mit Gewehrkolben ohnmächtig geschlagen oder unter Wasser gedrückt. Sie ertranken im Moor.

Die Gewalt lockte Zuschauer an. Hunderte Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt standen am Rande des Sumpfes und betrachteten den Exzess. Einige heizten die Stimmung mit Zwischenrufen zusätzlich auf. Andere schlugen aus sicherer Entfernung mit nägelversehenen Holzlatten auf die Gefangenen ein. Eine Frau trat aus der Menge hervor und trampelte auf dem reglosen Körper eines Soldaten herum.

In der Gruppe hinter Krákora wurde es unruhig. Plötzlich fasste sich ein Wehrmachtssoldat in den Stiefel und zog eine Pistole hervor. Er zielte aber nicht auf den Soběslaver Revolutionsgardisten, sondern schoss sich in den Kopf. Die ganze Zeit war er mit der versteckten Waffe hinter Krákora hergegangen. Die letzte Kugel im Magazin hatte er aber für sich selber aufgespart.

Zwischen Ausnahmezustand und Normalität

Soběslav und die Grenzziehungen vor (violett) und nach (rot) dem Münchner Abkommen. (Quelle: Semotanová, Akademický atlas, S. 440; bearbeitet von N.P.)

Wenige Tage zuvor hatte in der Stadt noch kaum etwas auf die eskalierende Gewalt hingedeutet. Im Gegenteil: Die Bevölkerung war in Feierlaune.

Am 5. Mai 1945 hatte die Stadt im Rundfunk vom Prager Aufstand erfahren. „Um das Radio hatte sich ein Haufen Menschen versammelt. Bis heute hallen mir die Worte ‚Praga calling, Praga calling' in den Ohren nach", erinnert sich Zeitzeuge Miroslav Süsser.

In Soběslav war die Nachricht über den Aufstand in der rund 100 Kilometer entfernten Hauptstadt der Startschuss zur Wiedererlangung der Souveränität und zur – zunächst mehr symbolischen denn gewaltvollen – Rückeroberung der besetzten Stadt. Umgehend begannen die Leute, tschechoslowakische Fahnen an ihren Häusern zu hissen, deutsche Orientierungstafeln und Firmenbeschriftungen zu entfernen und die deutsche Propaganda an den Wänden zu übermalen. Pryč s nepřáteli (=Fort mit dem Feind!), Ať žije Stalin (=Es lebe Stalin) und Ať žije Beneš (=Es lebe Beneš), aber auch revolutionäre Parolen, ein roter Stern sowie Hammer und Sichel waren plötzlich in den Strassen zu sehen.

„Nach diesen Nachrichten stand die ganze Stadt auf den Beinen. Alle waren sich bewusst, dass die sieben Jahre lang erwartete Stunde der Befreiung geschlagen hat“, schrieb der Stadtchronist.

Die Jahre nach dem Münchner Abkommen waren geprägt gewesen durch eine Allgegenwart von Terror und Unterdrückung einerseits und einer fast erstaunlichen Normalität andererseits. Nach dem Trauma durch die Annektion der sudetendeutschen Gebiete 1938 folgte wenige Monate später der Einmarsch deutscher Truppen. Wie rund sieben Jahre später bei Kriegsende wurde die Soběslaver Bevölkerung ebenfalls per Radio über die Geschehnisse des Weltkonflikts informiert. Der Prager Rundfunk meldete am Morgen des 15. März 1939, „dass seit sechs Uhr früh reichsdeutsche Soldaten das Land des heiligen Wenzels besetzen." Der Mitteilung folgte der Befehl, „dem Fortschreiten der Soldaten nicht die geringsten Hindernisse in den Weg zu legen, sondern, im Gegenteil, alle Anweisungen der Befehlshaber der fortschreitenden Truppen bedingungslos zu befolgen.“ Resigniert hielt der Soběslaver Stadtchronist fest: „Der Verrat war vollbracht.“

Adolf Hitlers „Erlass des Führers und Reichkanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren" versprach einen Tag später zwar, dass „das nationale [...] Eigenleben des tschechischen Volkes sicherzustellen“, das Gebiet „autonom“ sei und „sich selbst“ verwalten könne. Doch liess Hitler allein durch den euphemistischen Begriff des „Protektorats“ kaum Zweifel darüber offen, dass die Tschechinnen und Tschechen „zu Menschen zweiter Klasse degradiert würden und dass die Deutschen mit uns nach Belieben verfahren könnten“, wie es der damalige tschechische Minister Ladislav Feierabend ausdrückte.

Die tschechische Bevölkerung befand sich fortan in der Schwebe zwischen vermeintlicher Autonomie und Selbstverwaltung und der faktischen Fremdbestimmung durch die deutsche Besatzungsmacht.

Eine unheilvolle Symbiose

In Soběslav, fern ab von den Zentren der Macht, konnte zumindest der Anschein eines gewohnten zivilen Lebens über weite Strecken gewahrt werden. Im kulturellen Bereich verfügte die Bevölkerung über ein recht hohes Mass an Autonomie. Fasching, Tanzabende und Theater fanden auch in Soběslav lange ohne jegliche Einschränkungen statt. Selbst die tschechisch-patriotisch angehauchte Feier zum 550-Jahr-Jubiläum der Stadt konnte 1940 ungehindert abgehalten werden.

Die Nationalsozialisten griffen aber von Beginn an radikal in Bildung, Politik, Wirtschaft und Medien ein. Bücher wurden verboten, die Zweisprachigkeit eingeführt (wobei Deutsch immer an erster Stelle kam), der Geschichtsunterricht abgeschafft und Lehrer mussten einen Beleg über ihre arische Herkunft vorlegen. Ab dem Zeitpunkt der Okkupation gab es weder eine unabhängige tschechische Parteien- und Verbandslandschaft noch eine freie Presse. „Die deutsche Sprache und die Durchsetzung des Hitler-Kults waren für unsere einfachen Leute das Schrecklichste", fasste es der Stadtchronist zusammen.

Tatsächlich war die Stadt bis zum Kriegsende mit deutschen Parolen und Propaganda übersät, wie folgende Beispiele zeigen:

Die physische Gewalt des Krieges blieb in Soběslav jedoch bis zum Ende des Konflikts unsichtbar. Die ansässigen Besatzer waren laut Zeitzeuge Josef Aujezdecký ein paar „ältere Männer, die aber nie an der Front gewesen waren" und die keine Probleme machten. „Die alten Soldaten hatten zwar Gewehre, haben aber nie jemanden erschossen. [...] Ich glaube, dass es nie zu einem Zwischenfall mit ihnen kam.“ Es gab zwar phasenweise Hausdurchsuchungen, aber die alten Soldaten machten keine grosse Sache daraus. „Die Bewohner mussten lediglich etwas unterschreiben und bestätigen, dass sie dort gewesen waren.“

Das verhältnismässig milde Vorgehen der Nationalsozialisten lag nicht zuletzt an den wirtschaftlichen Interessen der Besatzer. Es kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kriegszeit der Bevölkerung und insbesondere den Randgruppen und Minderheiten viel Leid und Schrecken brachte.

Es entwickelte sich eine unheilvolle Symbiose: Die deutsche Herrschaft brauchte die tschechischen Arbeiter während des Krieges für die Rüstungsindustrie. Umgekehrt brauchten die tschechischen Arbeiter ihre Anstellungen, um in der Krisenzeit eine Grundlage für das Leben von sich und ihrer Familie zu sichern. Es wurde den Tschechen ermöglicht, sich aus eigener Kraft mehr oder weniger erträgliche Bedingungen zu schaffen. Dies hemmte den Zulauf zu den in Südböhmen ohnehin spärlich verbreiteten Widerstandsbewegungen.

Die Schrecken der Heydrichiade

Die Situation verschärfte sich massgeblich während der sogenannten Heydrichiade, die Zeit nach dem Attentat auf den im Herbst 1941 eingesetzten Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Verfolgungen, Denunziation und Verhaftungen prägten in dieser Phase das Leben der Tschechinnen und Tschechen. Das Standrecht wurde ausgerufen, in nur rund drei Monaten 3188 Menschen verhaftet, 1357 zum Tode verurteilt und die Ortschaften Lidice und Ležáky dem Erdboden gleichgemacht.

In Soběslav drohte die Gefahr aus der Nachbarstadt Tábor, wo die Geheime Staatspolizei stationiert war: „Angst hatten wir, wenn die Gestapo [aus Tábor] kam. Es konnte reichen, dass jemand etwas Falsches sagte. Dann holten sie die Leute ab und brachten sie ins Konzentrationslager oder erschossen sie." Die Auflistung der Todesopfer in der Stadtchronik spricht eine deutliche Sprache: Insgesamt wurden in Soběslav während des Krieges 70 Menschen durch das nationalsozialistische Regime getötet. Die grosse Mehrheit von 61 Personen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in einer Massendeportation am Ende des Jahres 1943. Die neun nicht-jüdischen Kriegsopfer wurden alle im Zuge der Heydrichiade nach dem Mai 1942 von der Gestapo erschossen.

Nachbarn, Lehrer, Familienangehörige, Freunde und Bekannte wurden abgeführt und kehrten teilweise nie mehr zurück. Vom Tod der Betroffenen zeugten in der Stadt lediglich rote Anschläge, auf denen die Namen und die Todesdaten der Opfer veröffentlicht wurden. Die unmittelbare Abwesenheit der Gewalttaten vermindert zwar in keiner Weise weder deren Brutalität noch die erschütternden Folgen für die Hinterbliebenen. Dass ein Grossteil der Bevölkerung in Soběslav aber erst nach dem offiziellen Kriegsende die ersten „Kriegstoten" zu Gesicht bekommen sollte, ist dennoch bemerkenswert.

„In unserem Land wird das Ende des Krieges mit Blut geschrieben werden."

(Exil-Präsident Edvard Beneš, 1943)
Die Ankunft der Roten Armee am 10. Mai 1945 in Soběslav (Quelle: Archiv der Stadt Soběslav)

Am 10. Mai 1945 war es endlich soweit: Die Rote Armee traf unter Jubel in Soběslav ein. Zuvor war den Bewohnerinnen und Bewohnern lange Zeit nicht klar, ob zuerst amerikanischen oder sowjetischen Streitkräfte in der Stadt eintreffen würden. Die Amerikaner hatten sich schliesslich bereits zuvor bis zum Ufer der Moldau rund 20 km westlich der Stadt genähert.

In den Tagen vor der Ankunft herrschten in Soběslav chaotische Zustände. Die ehemalige Besatzungsmacht zog auf ihrer Flucht vor der Roten Armee in Scharen durch die Ortschaft. Aufgrund ihrer Lage befand sich Soběslav in einem Nadelöhr auf einem der letzten offenen Fluchtrouten. In der Stadt bildete sich eine neue Verwaltung, die unter der Leitung des Biologen Dr. František Miller gänzlich aus politischen Neulingen bestand. Die 25-köpfige Gruppe aus Laienpolitikern verfasste noch am Tag des Prager Aufstands am 5. Mai ein Flugblat, in dem auf die Besonnenheit der Bürgerinnen und Bürger von Soběslav plädiert wurde:

A u f r u f !

Einwohner der Stadt Soběslav!

Nach sieben langen Jahren unter Hitlers Gewalt ist unser Volk wieder frei. In den Tagen grosser Freude wendet sich der örtliche Ausschuss der Stadt Soběslav mit einer Bitte und einem Antrag im guten Willen an Sie [...] Wir kennen Ihren Schmerz, wir kennen Ihren Ruf nach Gerechtigkeit, weil wir zu Ihnen gehören. Es wurde bereits veranlasst, dass alle Übeltäter an unserem Volk, alle Verräter und alle Denunzianten verhaftet werden und vor Gericht kommen.

Es ist doch im Interesse der Sache selbst, dass die Bevölkerung nicht in die Massnahmen der Polizeiorgane eingreift, damit man Missgriffe und Akte der persönlichen Rache vermeidet. Wir möchten im Sinne der besseren Zukunft arbeiten, im Sinne und nach dem Regierungsprogramm unseres Präsidenten Dr. E. Beneš. [...]

Es lebe die neue Tschechoslowakische Republik, es lebe unser Präsident Dr. Edvard Beneš! Hoch lebe Marschall Stalin, Präsident Truman und Regierungspräsident Churchill!

In Soběslav am Tag unserer Befreiung.

Der Nationalausschuss in Soběslav

Das politische Konstrukt der Kleinstadt stand indes auf wackligen Beinen: Weder waren die Vertreter des sogenannten Nationalausschusses durch die Bevölkerung gewählt worden. Noch war eine beständige Verbindung zum nationalen Bezirksausschuss in Tábor gewährleistet, weshalb die Kompetenzen der politisch meist völlig unerfahrenen Ausschussmitglieder ausgeweitet wurden.

Dennoch schien der Plan eines friedlichen Kriegsendes zunächst aufzugehen. Der Nationalausschuss organisierte als Ausdruck der „Freude über das Erreichen der Nationalfreiheit" einen öffentlichen Umzug durch die festlich geschmückte Stadt. Obwohl auch in den letzten Tagen vor der Ankunft der Roten Armee immer noch die ununterbrochene Flucht der deutschen Armee Richtung Grenze stattgefunden hat, kam es in Soběslav zu keinerlei gewalttätigen Zwischenfällen. Die Lage schien ruhig zu sein. Wie konnte es wenige Tage später dennoch zu Gewaltexzessen kommen?

Miller stand mit seinen versöhnlichen Worten bald allein auf weiter Flur, die landesweite Stimmung entsprach in Zeiten der „Wilden Vertreibung" nicht diesem vermeintlich friedlichen Bild. Auch die Regierung um den heroisierten Edvard Beneš – den der Soběslaver Ausschussvorsitzende im Flugblatt noch als moralische Instanz hervorgehoben hatte – schlug weit aggressivere Töne an.

Bereits während des Krieges hatte die Führungsriege im Londoner Exil die Stimmung mit verschiedenen Aussagen stetig angeheizt. „In unserem Land wird das Ende des Krieges mit Blut geschrieben werden“, liess Beneš in einer Mitteilung im Oktober 1943 verlauten. „Greift die verfluchten Deutschen an und erschlagt die Okkupanten, bestraft die Verräter, bringt die Feiglinge und die Schädlinge des nationalen Kampfes zum Schweigen!“, hiess es im Februar 1945 in einem Aufruf im Londoner und Moskauer Rundfunk. „Unsere Losung sei, unsere Heimat definitiv zu entgermanisieren, und zwar kulturell, wirtschaftlich und politisch“, proklamierte der Präsident in seiner ersten Rede nach seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil in Prag.

Rachegelüste als alleinige Begründung für die Gewalt herbeizuziehen, greift zu kurz.

Es waren Worte, die in der Bevölkerung auf Anklang stiessen. Gerade in ländlichen Gebieten wie in Soběslav, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit weniger von realpolitischen Massnahmen als von aufwieglerischen Radiodurchsagen beeinflusst wurden, darf ihre Wirkung nicht unterschätzt werden.

Mitten in dieser aufgeheizten nationalen und internationalen Atmosphäre begann in Soběslav die Reorganisation der Armee: Bereits kurz nach dem Prager Aufstand am 5. Mai marschierte eine spontan gebildete – und zu diesem Zeitpunkt noch unbewaffnete – Gruppe von Männern in Zivilkleidung zum Gebäude der deutschen Besatzung auf dem Stadtplatz und verhandelten mit dem deutschen Kommandanten über die Kapitulation.

Dieser weigerte sich zwar zunächst, seinen Posten zu räumen. Er war aber zu Zugeständnissen bereit. So übergab der deutsche Kommandant den neugebildeten Truppen eine beträchtliche Menge an deutschem Kriegsmaterial, welches in Soběslav gelagert wurde. Während des Krieges stand auf Waffenbesitz die Todesstrafe. Plötzlich aber fanden sich die bis anhin waffenlosen Männer Soběslavs in Besitz eines umfangreichen Arsenals. Die Macht war endgültig gekippt.

Es ist naheliegend, das Rachemotiv als Grund für die ausufernde Gewalt einige Tage später anzubringen. Seit dem Trauma von München hatte die Bevölkerung in der Kleinstadt in einer stetigen Unsicherheit gelebt. Die Menschen waren dem Besatzungsterror jahrelang ausgeliefert, der in der Zeit der Heydrichiade ihren blutigen Höhepunkt fand. Doch Rachegelüste als alleinige Begründung für die Gewalt herbeizuziehen, greift zu kurz.

Die Brutalisierung der Menschen aufgrund der widerfahrenen Schicksalsschläge erklären noch nicht die Gewalttaten, sondern beschreiben lediglich ihren emotionalen Rahmen. Ein Gegenbeispiel, das der naheliegenden Kausalität von erlittenem Unrecht und Rache widerspricht, ist rasch gefunden: Im von den Amerikanern befreiten Teil Böhmens kam es zu markant weniger gewalttätigen Übergriffen – und dieser war von Soběslav gerade einmal 20 km entfernt.

Ein straffreier Raum der Willkür und Gewalt

Wie die Betrachtung des Weltkriegs aus Sicht der Kleinstadt zeigt, führten im Frühjahr 1945 viele verschiedene Faktoren dazu, dass die Macht innert weniger Tage kippen konnte, eine vermeintlich friedliche Situation in offenen Hass umschlug und sich still gehegter Groll in blutige Übergriffe verwandelte:

Zum einen gestaltete sich die politische Situation auf lokaler Ebene äusserst unsicher. Eine unerfahrene und spontan zusammengesetzte Gruppe hielt in der Kleinstadt von einem Tag auf den anderen die Fäden in der Hand. Die Kompetenzen des örtlichen Ausschusses mussten dabei zwangsläufig übertreten werden, da eine stetige Verbindung zu den übergeordneten Instanzen nicht gewährleistet war.

Gleichzeitig war von nationaler Ebene weniger mit Unterstützung in realpolitischen Angelegenheiten, denn mit antideutscher Stimmungsmache zu rechnen. Die politische Elite um den gefeierten Präsidenten Edvard Beneš trieben die Gewalt mit einer dezidiert deutschfeindlichen Rhetorik aktiv an und garantierten den Menschen nachträgliche Straffreiheit.

Zum anderen kamen die reorganisierte Armee, die revolutionären Kräfte und die selbsternannten Partisanen in Soběslav bald in Besitz einer grossen Menge Kriegsmaterial. Hatte der mangelnde Waffenbesitz aufgrund des strikten Verbots während des Krieges noch die Widerstandsbewegungen gehemmt, stand einem Gegenangriff auf die nunmehr unterlegenen Feinde nichts mehr im Weg.

Zudem hatten die Tschechoslowaken nach der Ankunft der Roten Armee eine kriegserprobte Macht an ihrer Seite, die vor Übergriffen auf Deutsche nicht zurückschreckte.

In der Kleinstadt wurde so aufgrund der politischen Führungsschwäche, der Bewaffnung der Leute und der Unterstützung durch die Sowjetunion ein straffreier Raum der Willkür und Gewalt geschaffen, in dem latente oder ad hoc geschaffene Rachegelüste folgenlos befriedigt werden konnten.

Die öffentlich vollstreckten Gewalttaten vor den Augen von hunderten schaulustigen Bewohnerinnen und Bewohnern wurden zu einem Ereignis von stadthistorischer Bedeutung und haben sich unweigerlich ins kollektive Gedächtnis der Ortschaft eingebrannt.

Umso erstaunlicher ist es, dass heute in der Stadt öffentlich nichts an die Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Im Gegenteil: Die gelebte Erinnerung an den Weltkonflikt beruht auf einem verzerrten Narrativ, das zu Zeiten der Sowjetunion entstand und an dem nach wie vor festgehalten wird. Teil II der historischen Reportage befasst sich mit dem heutigen Umgang mit der Nachkriegszeit in Soběslav.