Dienstag, 8. Mai 1945

Wie ein Hitlerjunge, ein Soldat, ein Flüchtlings-, Stadt- und Landkind das Kriegsende erlebt haben

Die Zeugen

Heute leben sie im Großraum Stuttgart, den 8. Mai 1945 haben sie an ganz unterschiedlichen Orten, in ganz unterschiedlichen Situationen erlebt. Hier erzählen sie ihre Geschichten.

Von Kathrin Brenner und Lisa Welzhofer

Der Hitlerjunge 
Paul Bergmann

"Wir waren ja total der Nazipropaganda erlegen als junge Menschen. Wir hatten keine Informationen, wie das Leben woanders läuft . Uns wurde 1945 der Boden unter den Füßen weggezogen."

Kartoffelsalat und Suppe gab es bei den Bergmanns in Fellbach zum Mittagessen - an dem Tag, als das Deutsche Reich kapitulierte. Paul Bergmann hat in seiner Jugend Tagebuch geschrieben. Zusammen mit anderen Dokumenten aus jener Zeit - einem Entnazifizierungsbogen etwa, auch Schul- und Zeichenheften - hat er es bis heute aufbewahrt. In seinem Tagebuch mischen sich der Alltag eines 13-Jährigen und Zeitgeschichte. (Klicken Sie auf die fünf weißen Punkte, um Paul Bergmanns Tagebucheinträge zwischen 25. April und 10. Mai 1945 zu hören):

Das Flüchtlingskind
Ingrid Noller

"Die Leute, die Flüchtlinge aufnehmen mussten,
waren oft nicht sehr begeistert. Wir wurden teilweise unglaublich schlecht behandelt."

Mit dem Ende des Krieges beginnt für Ingrid Noller eine zweijährige Flucht. Mit ihrer Mutter, Oma, der ehemaligen Kinderfrau der Mutter und ihren beiden Geschwistern flieht die damals Siebenjährige aus Großpostwitz bei Bautzen über Tschechien nach Wien und schließlich nach Hahnenklee im Harz.

Auf ihrer Flucht wird die Familie immer wieder von russischen Soldaten abgefangen. Hier ließt Ingrid Noller ihre Erinnerungen vor. Sie berichtet darin von zwei Begegnungen in Rozmital im heutigen Tschechien, wo die Familie zeitweise in einer ehemaligen Schule untergebracht ist (klicken Sie auf die zwei weißen Punkte):


Der Soldat
Hubert Titze

"Wir waren Soldaten, wir mussten mitmachen,
was auf uns zukam.
Man hat uns unsere Jugend geraubt."

"Glück" ist ein Wort, das Hubert Titze immer wieder benutzt, wenn er erzählt, was er in den letzten Kriegstagen, die er in Italien verbringt, erlebt hat. Nach dem 8. Mai gerät der junge Mann aus dem Sudentenland in russische Gefangenschaft. Eigentlich soll er nach Sibirien transportiert werden. Hier ließt er seine Erinnerungen vor, in denen er schildert, was dann passiert ist (klicken Sie auf die drei weißen Punkte):

Die Ausgebombte
Helene Miola

"Meine Großeltern hatten einen Bauernhof und haben uns Lebensmittel in die Stadt geschickt. So haben wir die Zeit überstanden."

Rund 90 Prozent der Stuttgarter Innenstadt sind nach dem Krieg zerstört - darunter auch die Wohnung von Helene Miolas Familie im Heusteigviertel. Die Kinder erleben den 8. Mai auf dem Land, bei ihrer Tante in Altshausen. Dort marschieren die Franzosen ein. Helene Miola schildert, wie es im völlig zerstörten Stuttgart für sie weiter ging (klicken Sie auf die zwei weißen Punkte):

Das Landkind
Christa Knauß


"Unser Pfarrer hat gleich von der Befreiung und Erlösung durch die Amerikaner gesprochen. Das ging gegen mein inneres Gefühl."

Als die Amerikaner im benachbarten Lorch (Rems-Murr-Kreis) einmarschierten, legte sich "die Angst wie Bleib über Waldhausen", sagt Christa Knauß. Die heute 90-Jährige konnte den Untergang des Dritten Reiches lange nicht als Befreiung empfinden. Sie sei wie viele ihrer Generation "indoktriniert" gewesen. Wie sie sich gefühlt hat - hier ließt sie ihre Erinnerungen vor (klicken Sie auf die fünf weißen Punkte):

"Wir haben die Zeit für uns genutzt" 

Wie es nach Kriegsende mit
den fünf Zeitzeugen weiterging
 


Wir haben die fünf Zeitzeugen an einen Tisch gesetzt und sie gefragt, wie es mit ihnen nach Kriegsende weiter ging. Ein Gespräch über das Ankommen, Aufräumen, Weiterleben und die Frage, was das alles mit heute zu tun hat:


Frau Noller, Sie sind bei Kriegsende vom ­heutigen Tschechien aus über Wien nach Deutschland geflohen. Wie war Ihr ­Ankommen hier?

Noller: Die Leute, die Flüchtlinge aufnehmen mussten, waren oft nicht sehr begeistert. Wir wurden teilweise unglaublich schlecht behandelt. Als wir zunächst im Harz ankamen, hatten wir es unglaublich schwer. Noch dazu waren wir Katholiken, und das war eine protestantische Gegend. Es ging uns vielleicht ähnlich wie muslimischen Flüchtlingen heute. Als wir dann nach Süddeutschland kamen, war es besser. In Backnang hat mich keiner nach meiner ­Konfession gefragt.

Knauß: Das habe ich bei uns in Waldhausen anders erlebt. Als Flüchtlingen ein Zimmer zugewiesen wurde, hat die Hausbesitzerin als Erstes gefragt: „Was seid ihr?", also: „Welche Religion habt ihr?“

Miola: Unsere Wohnung in Stuttgart war nach dem Krieg zerstört. Eine fremde Frau hat meiner Mutter, meinem Bruder und mir in ihrem Haus drei kleine Dachkammern überlassen. Es gab nur eine Wasserstelle und ein Klo. Wir waren so eingeschränkt und mit uns beschäftigt – vielleicht hatten wir deshalb wenig Mitgefühl mit den Flüchtlingen.

"Man hat uns unsere Jugend geraubt, und die wollten wir nach dem Krieg nachholen."

Herr Titze, Sie stammen aus dem ­Sudetenland. Was haben Sie als Flüchtling für Erfahrungen gemacht?

Titze: Gute. Meine Familie und ich waren zwei Wochen in einem Lager in Backnang, dann sind wir in ein Haus eingewiesen worden. Wir waren drei und hatten ein etwa zwölf Quadratmeter großes Zimmer ohne Ofen und mit kaputten Fenstern. Aber die Leute waren hilfsbereit. Sie haben uns warme Milch und Kartoffeln gegeben.

Sie waren im Krieg Soldat. Haben Sie sich als Verlierer gefühlt?

Titze: Natürlich haben wir den Krieg verloren. Wir waren Soldaten, wir mussten mitmachen, was auf uns zukam. Man hat uns unsere Jugend geraubt, und die wollten wir nach dem Krieg nachholen. Dafür haben wir uns angestrengt und sehr viel gearbeitet.

Frau Knauß, Sie haben erzählt, dass die ­Nazipropaganda bei Ihnen lange ­nachgewirkt hat. Wann haben Sie diese ­überwunden?

Knauß: Das war ein Prozess von mehreren Jahren. Unser Pfarrer hat gleich von der Befreiung und Erlösung durch die Amerikaner gesprochen. Das ging gegen mein Gefühl. Ich bin ja die ganze Nazizeit über in die Schule gegangen,wir wurden indoktriniert.

Wie war das bei den anderen?

Miola: Für uns war nach dem Krieg vor allem wichtig, wieder Fuß zu fassen. Meine Mutter musste zusehen, wie sie uns zwei Kinder durchbringt, denn mein Vater war in Russland verschollen. Ich war in der Pubertät. Da macht man sich über die Vergangenheit nicht so viele Gedanken.

Bergmann: Wir waren ja total der Nazipropaganda erlegen als junge Menschen. Wir hatten keine Informationen, wie das Leben woanders läuft und wie die Jugend lebt. Uns wurde 1945 der Boden unter den Füßen weggezogen. Wir haben versucht, irgendwo einen neuen Boden zu finden. Mir persönlich hat der Glaube sehr geholfen. Ich habe mein Leben darauf aufgebaut.

"Ich war dabei, als man die Kellerei Rilling in Fellbach geplündert hat. Da standen wir knöchelhoch im Wein. Den haben wir abgefüllt und auf den Dörfern gegen Eier oder Fleisch getauscht."

Frau Miola, können Sie uns Ihr Leben im ­zerbombten Stuttgart schildern?

Miola: Es waren überall Ruinen. Vor allem die Männer, die noch da waren, mussten helfen, sie wegzuräumen. Meine Mutter hat geputzt, um für uns Kinder Geld zu verdienen. Den Vater mussten wir für tot erklären lassen, um die Rente zu bekommen. So ist es irgendwie weitergegangen. Meine Großeltern hatten einen Bauernhof und haben uns oft einen Korb mit Lebensmitteln geschickt. So sind wir durchgekommen.

Noller: Meine Mutter hat ihr letztes bisschen Schmuck, das sie gerettet hatte, gegen Brot getauscht. Mein Vater hat Nachhilfe gegeben, um Kochtöpfe kaufen zu können.

Bergmann: Ich habe die Plünderung der Brotfabrik in Fellbach miterlebt. Alle haben säckeweise Mehl rausgetragen. Die musste man dann unter Androhung der Todesstrafe zurückgeben, aber einen haben wir versteckt. So konnten wir wenigstens morgens eine Mehlsuppe essen. Ich war auch dabei, als man die Kellerei Rilling in Fellbach geplündert hat. Da standen wir knöchelhoch im Wein. Den haben wir abgefüllt und auf den Dörfern gegen Eier oder Fleisch getauscht. Wir haben Kartoffeln und Rhabarber geklaut. Es war ein Chaos, aber nur so ist man durchgekommen.

Knauß: Wir hatten das, was auf dem Acker wuchs. Kartoffeln und Gemüse. Jeder ­Einwohner hatte so ein Äckerle.

Miola: Bucheckern hat man gesammelt, ­Pilze und so etwas.

Noller: Als wir noch im Harz waren, habe ich mir immer gewünscht, nicht als deutsches Kind geboren worden zu sein.

Bergmann: Ja, so ging es mir auch: Warum bin ich kein Engländer?

Noller: Die Engländer waren für uns ganz reiche Herren, dabei ging es denen auch nicht so gut. Ich war mal bei einer Weihnachtsfeier, die Engländer für deutsche Kinder organisiert hatten. Da gab es Kekse und Geschenke, und ich dachte mir: Warum bin ich nicht als englisches Kind zur Welt gekommen?

"Am Rathaus bei uns hing nach dem Einmarsch der Amerikaner ein großes Plakat mit Leichenbergen."

War die Judenvernichtung ein Thema?

Miola: Ich habe davon erst nach dem Krieg erfahren. Mein Mann hat allerdings oft ­erzählt, er habe etwas von Juden in einem Keller in Ostheim mitbekommen.

Bergmann: Wir hatten ein bildhübsches Mädchen in der Klasse, das hieß Ilona. Eines Tages hat der Lehrer gesagt, sie sei verzogen. Man hat aber gemunkelt, sie sei abgeholt worden. Von den ganzen Gräueltaten haben wir erst nach dem Krieg erfahren.Wir haben es zunächst nicht geglaubt.

Titze: Wenn wir ganz ehrlich sind: Man hat auch nicht nachgefragt, wenn man mal ein bisschen was mitgekriegt hat.

Knauß: Am Rathaus bei uns hing nach dem Einmarsch der Amerikaner ein großes Plakat mit Leichenbergen. Da habe ich gesagt, das kann nicht stimmen, das machen unsere Leute nicht. Wir müssen doch edel, hilfreich und gut sein, so hat man es uns beigebracht.

Noller: Es war eine große Enttäuschung.

Wie wurde im privaten Umfeld über die ­Naziverbrechen gesprochen?

Titze: Dass es ein großes Unrecht war.

Bergmann: Bei uns in der Familie war das kein Thema.

Noller: Ich weiß noch, dass unsere Religionslehrerin nach dem Krieg gesagt hat, dass die Juden verfolgt worden seien, weil sie Christus ans Kreuz genagelt haben. Da bin ich nach Hause und habe das meinem Vater erzählt. Mein Vater hat bloß gesagt: „So ein Blödsinn.“

"Ich habe von der Flucht bis zur Währungsreform 1948 nur gehungert."

Wann ging es aufwärts?

Miola: Wir wohnten zwölf Jahre lang in den Dachkammern. Als wir dann endlich eine eigene Wohnung hatten, ging es aufwärts.

Titze: Ich habe direkt nach meiner Ankunft in Süddeutschland angefangen, bei einem Bauern zu arbeiten. Dann habe ich Zimmermann gelernt und ein Haus gebaut. Der Bauplatz hat pro erschlossenem Quadratmeter drei Mark gekostet. Die Zeiten haben sich nach und nach gebessert. Und das haben wir für uns genutzt. Alle haben zusammen geholfen. Auch die Politiker damals haben über Parteigrenzen hinweg stärker an einem Strang gezogen als heute.

Noller: Ich habe von der Flucht bis zur Währungsreform nur gehungert. Es gab für eine fünfköpfige Familie einen Laib Brot pro Woche. Erst mit der Währungsreform ging es aufwärts.

Haben Sie Ihre Kriegserlebnisse verfolgt?

Miola: Ich habe noch mehrere Jahre lang von den Tieffliegern geträumt.

Knauß: Das war der reine Terror, wie die Tiefflieger auf Leute auf dem Acker geschossen haben. Mich hat das lange belastet.

Noller: Ich habe bei Sirenenproben, die regelmäßig stattfanden, immer Gänsehaut gehabt. Da ist mir kurz die Luft weggeblieben.

Titze: Die Kriegserlebnisse und die Vertreibung habe ich schon noch im Kopf. Und meine Jugend auch. Da denke ich so oft dran.

Bergmann: Ich gehe nicht gern zu Feuerwerken wegen der Knallerei. Außerdem träume ich oft von Flugobjekten – bis heute.

"Meine Kinder haben sich auch nie so richtig dafür interessiert. Ich habe Verständnis dafür."

Haben Sie mit Ihren Kindern über den Krieg gesprochen?

Miola: Meine Enkeltöchter waren interessierter als meine Kinder. Als die Serie „70 Jahre Kriegsende“ startete, haben sie gesagt, „Oma, erzähl doch mal“, und meine Geschichte mit dem Computer aufgeschrieben.

Noller: Meine Kinder haben sich auch nie so richtig dafür interessiert. Ich habe Verständnis dafür – wer so etwas nicht erlebt hat, der kann sich das nicht vorstellen. Ich habe ihnen aber schon hin und wieder etwas erzählt, auch um ihnen meine Einstellung zu ihrer Erziehung zu erklären. Denn sie haben sich oft beschwert, dass ich sie so streng erziehe oder so knapp mit dem Geld halte. Ich habe von meiner Geburt an alles aufgeschrieben für meine Enkelkinder. Mein zehnjähriger Enkelsohn bekommt immer ein Kapitel ­davon zum Geburtstag. Nur das vom Krieg noch nicht, das finde ich so grausam.

Knauß: Mit Fremden konnte ich immer besser darüber sprechen, warum, weiß ich nicht.

Hat Deutschland seine Vergangenheit ­ausreichend aufgearbeitet?

Knauß: Wir haben in Lorch eine Geschichtswerkstatt gegründet und Zeitzeugen besucht und befragt.

Bergmann: Wenn ich das global betrachte, haben wir unsere Vergangenheit sehr intensiv aufgearbeitet, intensiver als andere.

Noller: In Deutschland hat man sehr viel über die Gräuel an den Juden gesprochen, aber was in Polen oder der Tschechei passiert ist, darüber wurde nie gesprochen. Darüber darf man gar nicht reden. Das macht mich sehr traurig.

Titze: In Tschechien spricht man darüber.

Noller: Das weiß ich nicht, ich war nie wieder dort. Ich kann nicht mehr hingehen.

Titze: Meine Kinder und Enkel haben mir eine Reise in die alte Heimat nach Wallstein und Jägerndorf im ehemaligen Sudentenland geschenkt. Da waren wir dieses Jahr. Am Platz unseres Hauses steht jetzt ein ­Wochenendhaus von Tschechen. Die haben mich empfangen, als würde ich heimkommen. Sie haben uns Kaffee und Kuchen gemacht, der Besitzer hat mir das Dorf gezeigt. Ich heiße Titze, und er heißt Tietz.

"So viele Kriege, wie es derzeit gibt – kein Mensch hat was daraus gelernt."

Sehen Sie den 70 Jahre andauernden Frieden gefährdet?

Noller: Was mich beunruhigt, ist die Sache zwischen Russland, Syrien, der Türkei und den USA. Man weiß nicht, was daraus wird.

Titze: Aber ich glaube, die Leute haben gelernt, dass Krieg nichts bringt.

Noller: Davon bin ich nicht überzeugt. So viele Kriege, wie es derzeit gibt – kein Mensch hat was daraus gelernt.

Bergmann: Ich glaube, dass ein Krieg, so wie wir ihn erlebt haben, nicht mehr stattfinden kann. Ich fürchte ganz andere – vielleicht noch schlimmere – Bedrohungen, etwa den Terrorismus oder die Cyberkriminalität. Wenn man all die Computer und Netzwerke stilllegen würde, könnte man ganze Gesellschaften handlungsunfähig machen. Vor diesen Dingen habe ich viel mehr Angst.

Welche Lehren wollen Sie weitergeben?

Noller: Bescheidenheit ist wichtig. Man soll zufrieden sein mit dem, was man hat. Wenn ich aber mein Leben heute mit dem meiner ­Eltern vergleiche, dann lebe ich im Paradies.

Knauß: Für mich haben die Pädagogen eine große Verantwortung. Kinder dürfen nie mehr so beeinflusst werden wie wir damals.

Miola: Ich finde es sehr wichtig, dass man dankbar ist. Wir haben es nach dem Krieg sehr geschätzt, als es uns wieder gut ging.

Titze: Wenn man sieht, was alles weggeworfen wird – das kann unsere Generation nicht.

Bergmann: Man lernt immer nur aus der Vergangenheit. Wer daraus nicht lernt, der kann auch in der Zukunft nicht bestehen.