Ohne Obdach und ohne Geld

In Heilbronn leben etwa 250 Obdachlose. Wir haben zwei von ihnen begleitet

Text: David Hilzendegen

Einmal wäre er beinahe erfroren. Damals, in dieser Winternacht, in der das Thermometer zweistellige Minusgrade angezeigt hat, lag Robert auf dem Schulhof der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Böckingen. Geschlafen hat er nicht, aber gezittert vor Kälte. “Mein ganzer Körper war blau. Ich dachte, das überlebe ich nicht.” Dann öffnet eine Bäckerei rechtzeitig am frühen Morgen. Die warme Verkaufsstube hat ihn gerettet.

Robert, der eigentlich anders heißt, grüßt einen Passanten. Man kennt ihn in Heilbronn, früher war er ein guter Fußballer. Heute ist er obdachlos, seit vier Jahren lebt er auf der Straße. Der Gegrüßte weiß das wahrscheinlich nicht. Er wundert sich vielleicht über die 30 Kilo, die Robert seither zugelegt hat oder über den Schlabberlook, in dem er durch die Stadt läuft. Vielleicht halten ihn die Menschen für arbeitslos, vielleicht für einen Hartz4-Empfänger. Aber für einen Obdachlosen?

Kreuzgrund, Knast und Rattenlöcher

Robert ist alles drei in einem. Er stehe zu seinem Leben, sagt er. Und versucht doch, das Thema zu vermeiden, wenn er die alten Kumpels von früher trifft.

Früher meint sein Viertel in Heilbronn, in dem Robert aufgewachsen ist. Den TG Böckingen, in dem er das Fußballspielen lernte, und den SGV Freiberg, mit dem er von der Juniorenbundesliga geträumt hat. Geklappt hat das nicht. Geklappt hat vieles nicht. Stattdessen beging Robert Ladendiebstähle, wurde erwischt, bezahlte die Strafe nicht und wanderte in den Knast.

Zwei Monate musste er damals absitzen, geläutert war er nicht. Aus einem Diebstahl wurden viele Vergehen, aus zwei Monaten Knast wurden zwei Jahre. Die Stelle als Lagerist war futsch, der Rückhalt in der Familie auch. Der Vater, ein Unternehmer aus Heilbronn, ließ seinen Sohn fallen. "Ich hatte nie Probleme im Knast. Aber ich habe mir geschworen, dass ich dahin nicht mehr zurückgehe. Auch wegen meiner Freundin."

Händchenhalten, Rauchen,
Zeit totschlagen

Foto: Lindsay Fox / Flickr / CC BY SA 2.0

Es ist ein trüber Tag in Heilbronn. Robert und Kerstin, die im echten Leben ebenfalls anders heißt, spazieren durch die Fußgängerzone. Er Mitte, sie Anfang zwanzig. Händchenhalten, Rauchen, Zeit totschlagen. Beide sind nicht gerade der Beziehungstyp, der Liebesbriefe für den anderen schreibt. Der Ton ist rau, aber der Alltag ist das auch. Facebook-Beziehungsstatus: Verlobt.

Den Winter haben die beiden im Erfrierungsschutz im Lauerweg verbracht. Ein "Rattenloch", wie sie sagen, in dem abends die PET-Flaschen angenagt sind, die man morgens stehen gelassen hat. Und in dem es keine sicheren Schlafplätze gibt. 

Mindestens 245 Obdachlose gibt es in Heilbronn, aber nur ein paar Schlafplätze im Lauerweg. Betten reservieren ist nicht möglich, wer zu spät kommt, muss draußen bleiben. 

Wohnung, Jobs und Hartz IV

“Wer keinen Job hat, bekommt keine Wohnung. Und wer keine Wohnung hat, bekommt keinen Job”, sagt Kerstin. Dabei würde das Amt ihre Wohnung bezahlen, wer von Hartz IV lebt, bekommt Miete und Heizkosten erstattet. Pünktliche Zahlung direkt vom Staat - eigentlich ein Traum für Vermieter. 50 Absagen haben Robert und Kerstin schon kassiert, behaupten sie. “Und das sind nur die, die sich zurückgemeldet haben.”

Ohne Wohnsitz gibt es auch kein Geld vom Amt. Die Aufbaugilde fängt das ab, der Hartz-IV-Regelsatz fließt in die Wilhelmsstraße, wo die Wohnungslosen ein Postfach haben. Robert und Kerstin bekommen ihr Geld Anfang des Monats in bar. Und manchmal ist es dann gleich wieder weg.

“Wir wollten uns ein Hotelzimmer nehmen, nur eine Nacht, um endlich mal ausspannen und uns ausruhen zu können”, erzählt Robert. Doch ihr komplettes Geld wurde noch in der Gilde gestohlen. Er wisse, wer es war, sagt Robert. Anzeige erstatten wolle er jedoch nicht. “Wozu? Die Diebin ist doch genauso arm dran.”

"Wer keinen Job hat, bekommt keine Wohnung. Und wer keine Wohnung hat, bekommt keinen Job"

Es sind diese Momente, in denen sich die tiefe Kluft auftut zwischen der Welt der Wohnungslosen und der Welt da draußen. Die Ohnmacht und die Verzweiflung, die Robert sonst zu verschleiern versucht, werden dann greifbar, das Gefühl, den Weg in das vermeintlich normale Leben nicht mehr zu finden. Wenn sie alleine sind, erzählt Kerstin beiläufig, bricht es manchmal aus ihm heraus. Dann ist die ganze zur Schau gestellte Stärke und das Selbstbewusstsein, mit denen sie ihren Alltag zu meistern versuchen, plötzlich weg.

Es gibt andere Wohnungslose, die sich irgendwann an ihr Schicksal gewöhnt haben. Wer bei langjährigen Sozialarbeitern nachfragt, hört viele Geschichten von Menschen, die nach Jahrzehnten wieder ein Dach über dem Kopf hatten - und dann lieber freiwillig unter freiem Himmel übernachtet haben. Das enge Zimmer war nicht gut für die Psyche. Bei Robert und Kerstin sind es eher die Aussichten, die das Gemüt belasten.

Spice, Schuld und W-Lan

Es ist 7:15 Uhr am Morgen. Robert und Kerstin fläzen auf einem abgesessenen Sofa im Vorraum des Gildetreffs in der Wilhelmstraße. Es riecht muffig. Nach und nach kommen immer mehr Menschen die Tür herein, junge, alte, gesunde, kranke. Man begrüßt sich per Handschlag, bespricht kurz das gestrige Fußballspiel. Schalke hat verloren. Gesehen hat das Spiel keiner. Wie auch? Um 8 Uhr gibt es Frühstück.

Auf der anderen Seite der Straße steht die Villa Seelig, ein prächtiges Gebäude aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Erbaut wurde sie von einem reichen Heilbronner Kaufmann, heute sind schicke Frisöre und Zahnärzte darin untergebracht. Gegenüber im Gildetreff verkaufen Ehrenamtliche Kaffee und belegte Brötchen für 50 Cent an Bedürftige. Die Tagesstätte bietet das, was man gemeinhin Suppenküche nennt - mitsamt der Möglichkeit, zumindest den halben Tag dort zu verbringen.

Der Gildetreff ist der Fixpunkt in Roberts und Kerstins Tagesablauf. Es gibt Duschen, eine Kleiderkammer und ehrenamtliche Ärzte, die einen Teil ihrer Zeit als Rentner in der Gilde verbringen. Nachmittags um 15 Uhr schließen aber auch dort die Tore. Danach: Tristesse.

Wie bringt man einen Tag hinter sich, der so viele Stunden hat? Alkohol verdrängt die Langeweile, Drogen verschleiern die Gedanken, beides zusammen vertreibt die Schuldgefühle. Im K3 bei der Bibliothek gibt es wenigstens W-Lan.

Trocken sind beide. Noch nicht einmal Kaffee rühren Robert und Kerstin an. Sie sähen ja, wie sich die Leute im Gildetreff morgens benehmen, wenn sie keinen Kaffee bekommen. Für die Drogen gilt die Zurückhaltung zumindest bei Robert nicht. Zwölf Gramm Spice hat er zwischenzeitlich pro Tag konsumiert, mittlerweile ist er auf zwei bis drei Gramm pro Tag runter.

Spice lässt sich ganz einfach selbst herstellen, Zutaten und Anleitungen gibt es im Netz. Eine Heilbronnerin mischt die nötigen Chemikalien in ihrer Küche zusammen, sprüht sie auf Kräuter und verkauft sie aus ihrer Wohnung heraus. In der Szene ist die stadtweit bekannt. Spice ist stärker als Marihuana und billiger - aber auch gefährlicher. Halluzinationen und tagelange Blackouts sind noch die harmlosen Folgen.

Terrassen, Sehnsucht und Chancen

“Zwei Wochen fühlen sich in meinem Leben an wie zwei Jahre”, sagt Kerstin. Sie hat gerade einen Termin bei der Jugendhilfe Unterland hinter sich. In einem kleinen, schmucklosen Büro hat sie einer Sozialarbeiterin ihre Lebensgeschichte in Kurzform erzählt. 

Es lief gut, die Wartezeit auf die Zusage trübt aber die Freude. Kerstin hat sich für ein Zimmer im betreuten Wohnen vorgestellt, um endlich ein Bein auf den Boden zu bekommen. Zehn Betten stehen in der Wohngemeinschaft zur Verfügung, die für junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren eingerichtet wurde.

Es ist ein schöner März-Morgen, draußen scheint die Sonne. Das Bürofenster geht nach hinten raus, gegenüber kümmert sich eine Nachbarin um die Pflanzen auf ihrer riesigen Terrasse. Die Situation drinnen ist eher beklemmend.

"Zwei Wochen fühlen sich in meinem Leben an wie zwei Jahre"

Kerstin ist eines von sechs Kindern. Die Mutter Hausfrau und Putze, der Vater LKW-Fahrer und gewalttätig. Mit elf landet Kerstin im Kinderheim Bad Friedrichshall. Danach tingelt sie durch die Region, lebt in verschiedenen Heimen, bei Freundinnen - oder im Frauenknast in Schwäbisch Gmünd. Zwei Wochen verbringt sie da, ihre Aggressionen haben sie hinter Gittern gebracht. Seit Februar 2016 ist sie obdachlos.

Zwischendurch fängt Kerstin an zu lachen. “Ich bin ein böses Mädchen.” Heute ist sie 20 Jahre alt. Kontakt zu ihren Geschwistern hat sie nicht, hin und wieder schreibt sie ihren Eltern per Whatsapp.

Der Termin ist schnell erledigt, die Sozialarbeiterin und Kerstin kennen sich schon, Detailfragen gibt es keine mehr. Kerstin ist nicht zum ersten Mal hier, zwei Chancen hat sie bereits verstreichen lassen. “Es kann so nicht weitergehen, ich will mein Leben endlich in den Griff bekommen”, sagt sie jetzt.

Die Chancen stehen gut, dass sie ein Zimmer im betreuten Wohnen bekommt, sagt die Sozialarbeiterin hinterher. 

Das Ende der Geschichte

Das ist das abrupte Ende der Geschichte, denn kurz darauf bricht der Kontakt ab. Weitere Termine für Gespräche über das Leben als Wohnungslose sagen die beiden ab. Eine kryptische Whatsapp-Nachricht über Probleme mit der Gilde ist das letzte Lebenszeichen, das Robert von sich gibt. Die Drogenproblematik habe sich verschärft, heißt es aus der Gilde.

Kurze Zeit später sollte er in Weinsberg eine weitere Langzeittherapie antreten. Sofern denn die Umstände stimmen. “Ich gehe nicht, wenn meine Frau kein Dach über dem Kopf hat”. Vielleicht hat es ja geklappt.