Der Grenzgänger

Eine Spurensuche in Würselen, der Heimatstadt von Martin Schulz

Von Hans-Jürgen Deglow, stimme.de

Vor dem Zimmer des Bürgermeisters wartet der Götterbote. Ein Schelm, der sich etwas dabei gedacht hat, die glänzende Skulptur des griechischen Gottes Hermes einen halben Meter vor dem Porträt von Martin Schulz zu platzieren, so dass man sein Foto fast übersehen könnte. Aber nur fast, denn Schulz überstrahlt hier alles. Der Sozialdemokrat, der einst auszog aus der Stadt Würselen bei Aachen, um nach elf Jahren Bürgermeistertätigkeit - er war hier der letzte ehrenamtliche Amtsinhaber - Europa zu erobern.

Europa. Hier ist man überall mittendrin. Von seinem Haus in Würselen hätte Martin Schulz zu Fuß zur Karlspreisverleihung nach Aachen gehen können. Nebenan liegen der deutschsprachige Teil Belgiens und die Niederlande. Die Maasländer, wie sie sich nennen, sprechen den selben Dialekt. Offene Grenzen und ihre Vorteile sind seit langem Normalität. Arno Nelles, der heutige Bürgermeister von Würselen, sagt: „Das Miteinander unter europäischen Nachbarn gehört zu unserem täglichen Leben. So ist auch Martin groß geworden."

Hermes, der Grenzgänger, der die Botschaften der Götter überbrachte 

Ein Grenzgänger ist auch Martin Schulz. Und ein Botschafter der europäischen Idee. Schnell wird dies klar, wenn man seinen Weggefährten und seiner Familie hier, in Würselen, begegnet.

Seit Kindheitstagen sind Manfred Zitzen (63) und Martin Schulz (61) eng befreundet. Zitzen sitzt in seinem Büro gegenüber dem Rathaus, er leitet die Gesellschaft für Stadtentwicklung. Momentan entwickeln sich die Dinge ganz von alleine. So viel Werbung, wie diese kleine, aufgeräumte Stadt seit der Kür des prominenten Sohnes zum designierten Kanzlerkandidaten und SPD-Parteichef erfährt, war nie zuvor.

Zitzen, kariertes Hemd unter dem Sakko, auf der Nase eine Brille, die der von Schulz ähnelt, lacht gerne, wenn er von seinem Freund erzählt. Gemeinsam kickten sie in den frühen 60er Jahren auf Straßen und Bolzplätzen, dann ging es in die Jugend von Rhenania Würselen. „Wir waren damals eine Topadresse im westdeutschen Fußball", erinnert sich Zitzen. Gelbschwarze Trikots trugen die Rhenania-Spieler, wie die Konkurrenten von Alemannia Aachen - deren Arena ist gerade mal drei Kilometer entfernt.

Während Zitzen in der A-Jugend spielte, war der jüngere Martin in der B-Jugend aktiv. Als Verteidiger. „Martin war bissig, nie aufgebend, bis zur letzten Minute kämpfend. Für ihn war wichtig, dass der Gegenspieler den Ball erst gar nicht erreicht", erzählt Zitzen. So, wie er das sagt, sieht man in diesem Moment schon den Wahlkämpfer Schulz vor sich. Und ungemütliche Zeiten auf Kanzlerin Merkel zukommen.

„Der Martin war einer wie Berti Vogts“, sagt Zitzen. Schulz war also kein Filigrantechniker auf dem Platz, eher einer wie Gerhard Schröder, den man auf dem Rasen „Acker“ nannte. So etwas kommt gut an in der SPD. Aufsteiger mit Durchsetzungskraft sprechen die Seele der Partei an.

Mit Rhenania wurde Schulz sogar Westdeutscher Vizemeister - eine herausragende Leistung für ein Team aus einer Stadt mit heute knapp 40.000 Einwohnern. Ein Kreuzbandriss verhinderte weitere Fußball-Träume. Eines erzählen alle seine Freunde: Vize-Meister ist zwar schön, aber zu wenig für einen wie Martin Schulz. Er habe schon immer lieber gestalten wollen, „Mitlaufen ist nicht sein Ding“, sagt Zitzen.

Dass Schulz nun in die Bundespolitik drängt und der zweite rheinische Kanzler nach Konrad Adenauer und es zugleich wie „der Alte" als ehemaliger Bürgermeister schaffen könnte, ins Kanzleramt einzuziehen, das erfüllt die Menschen hier mit großen Stolz. Auch im Café Nobis an der Hauptstraße ist „der Martin" das Thema. „Der schafft das", klingt es im Singsang des hiesigen Dialekts vom Nachbartisch. 

Aber zu hören ist auch: „Der war als Bürgermeister nicht immer nett. Als er damals das Spaßbad durchgesetzt hat, konnte der rotzfrech werden.“ Fast jeder der Alteingesessenen kennt ihn persönlich. Mit Ehefrau Inge, einer Landschaftsarchitektin, lebt er in einem Einfamilienhaus. Tochter und Sohn sind erwachsen. Manchmal begegnet man Martin Schulz beim Stadtbummel oder beim Einkaufen. Aber das wird seltener, die große Politik absorbiert Schulz.

Hermes, Sohn des Zeus, Gott der Schläue und der Redekunst

Martin Schulz hat das Gymnasium abgebrochen. Mathematik war seine große Schwäche, verrät seine ältere Schwester Doris Harst, ebenfalls aktive Genossin. Schulz Stärken liegen woanders, etwa in den Gesellschaftswissenschaften. Oder: „Reden kann er wie kaum ein anderer. Und vor allem ist er belesen, er weiß so viel über die Geschichte", erzählt Harst. Die Leidenschaft für Bücher haben die Kinder von der Mutter geerbt, und dann ist da die Buchhandlung der Familie an der Hauptstraße, der ständige Zugang zur Welt des Lesens.

Der heutige Bürgermeister Nelles, ebenfalls Sozialdemokrat, sitzt an einem schweren Holzschreibtisch: „Hier saß schon Schulz, da sind sogar noch seine Kratzer in der Platte. Aber irgendwann kommt der Tisch in ein Museum, das verspreche ich Ihnen!“

An diesem Tisch arbeitete Schulz vor Jahren wieder einmal spät abends, als Ehefrau Inge anrief. „Martin, die machen die Mauer auf!" Es war der 9. November 1989, als die Schlagbäume im Osten sich öffneten. Ein unfassbar bewegender Moment für den geschichtsbewussten Mann, der hier in seinem Büro an der bundesrepublikanischen Westgrenze von einem geeinten Europa träumt.

Nun sitzt Nelles hier. Er lehnt sich im Stuhl zurück, schaut kurz an die Decke, sucht nach den richtigen Worten für seinen Gedanken und sagt dann: „Wissen Sie, was das Amt des Bürgermeisters ausmacht? Nirgendwo ist man so nah dran an den Menschen, wir begleiten sie im wahrsten Sinne des Wortes von der Geburt über die Eheschließung bis zum Tode. Oft sind wir auch die letzte Rettung für Menschen in Not.“ Und Martin sei besonders nah an den Menschen. Nelles: „Für uns alle ist er der Martin, weil er über alle Grenzen der Parteien hinweg anerkannt ist.“

Grenzerfahrungen gibt es mehrere. Ein Stehaufmann, der eine frühe und schwere Alkoholsucht und das Rauchen überwunden hat, der sich ohne Abitur bis zum Präsidenten des Europaparlamentes hochgearbeitet hat, der Bibliothekar war und fünf Sprachen spricht, der sich in der Knesset mit Israelis wegen ihrer Siedlungspolitik angelegt hat, ein Junge aus der Provinz, der nun Jean-Claude Juncker, Matteo Renzi, François Hollande und andere Europäer zu seinen Freunden zählt.

Dieser Aufstieg, so viel wird bei der Spurensuche in Würselen klar, macht deutlich: Schulz trägt nicht nur die DNA des Europäers in sich, der persönliche und echte Grenzen überwunden hat, er spricht auch die ureigene DNA der SPD an. Die Partei hat er wie die Heimatstadt mit seiner Kandidatur in Euphorie versetzt.

Bürgermeister Nelles ist zu Scherzen aufgelegt: „Wissen Sie, wenn die Aachener demnächst in Urlaub fahren und gefragt werden, woher sie kommen, dann werden sie sagen: aus Aachen, das liegt bei Würselen..."

„Einer von uns“, fährt Nelles fort, „wird für würdig gehalten, für das Kanzleramt zu kandidieren. Das macht uns stolz.“ So denken sie hier. „Wir sind Martin“-Plakate - die würden jetzt sehr gut zur Stimmung in dieser Stadt passen, die schon immer eher sozialdemokratisch war, früher geprägt vom Kohlebergbau.

Hermes, Gott der List und der Streiche 

Vor einiger Zeit, berichtet Nelles, hatte Schulz eine Audienz bei Papst Franziskus. Und Schulz wäre nicht Schulz, wenn er nicht andere Würselener mit nach Rom genommen hätte, darunter Nelles und den Ortspfarrer. „Er hat uns im Vatikan als Don Camillo und Peppone aus seiner Heimat vorgestellt", erzählt Nelles. Witze auf Kosten der Freunde? Eher Witzemachen mit den Freunden, die seine Bodenhaftung und Heimatverbundenheit schätzen.

Schulz wird als witziger und schlagfertiger Gesprächspartner beschrieben. Zudem mache er keinen Hehl aus seiner Gefühlslage, heißt es, da sei er ein echter Rheinländer. Der aber auch, je nach Situation, binnen Sekunden ins Ernste, Energische, entschieden Zupackende wechseln könne.

Hermes, Schutzgott der Herden

Ein Menschenfischer, vielleicht einer wie Johannes Rau? Der darbenden SPD käme es gerade recht. „Für meine Partei ist die Kandidatur meines Bruders wie ein Adrenalinstoß“, formuliert Sozialdemokratin Doris Harst. Die Erwartungen sind hoch. „Ich freue mich sehr für Martin und meine Partei, denn er kann kämpfen. Bis zur letzten Minute wird er sich mit aller Kraft und Überzeugung einbringen.“

Geschwärmt wird auch in der Gaststätte „Casa Verde": „Bei Sigmar Gabriel wusste man ja gar nicht, wofür der überhaupt steht, und Martin hat wenigstens Charisma“, arbeitet auch die freundliche Dame hinter der Theke am Image des nun populären Mitbürgers. Die letzten mit Charisma seien ja Willy Brandt und Björn Engholm gewesen.

Ihr Bruder habe immer für etwas gebrannt, sagt seine Schwester. Literatur, Geschichte, Musik, Vorsitzender im Jugendhilfeausschuss in Würselen, Europa. Ihr Vater sei Saarländer, auch ein Europäer und Frankreich-Freund - wie Martin. „Hier in Würselen haben viele den Euro und die Grenzöffnungen durch den Schengen-Vertrag doch als Erlösung betrachtet“, erklärt Doris Harst. Spricht da vielleicht ihr Bruder?

Hermes, der Botschafter

Botschaften überbringt Schulz nicht nur als Politiker. Auf Fahrten zur Partnerstadt Morlaix in Frankreich griff er schon mal zum Mikrophon, weil der Bus gerade ein geschichtlich interessantes Bauwerk passierte. Launig habe Schulz dann sein angelesenes Wissen referiert, erinnert sich Jugendfreund Zitzen.

Als junger Bürgermeister begründet Schulz eine weitere Städtepartnerschaft - mit dem bitterarmen Rėo im afrikanischen Burkina Faso. Viele Hilfsprojekte folgten. Schulz ist heute noch Beisitzer im Partnerschaftsverein, ebenso sein enger Freund und Berater Achim Großmann.

Hermes, Gott des Schlafes und der Träume

„Mein Bruder Martin", so berichtet Schwester Doris, „hat eine besondere Gabe von unserem Vater geerbt. Er kann an jedem Ort zu jeder Tageszeit von einer Sekunde zur nächsten ein erholendes Nickerchen machen."

Der Wahlkampf gegen Angela Merkel wird ihn also mutmaßlich nicht um den Schlaf bringen. Der Bote aus Würselen hat seiner Partei Träume zurückgegeben.