Allein mit Kind und wenig Geld

Fast die Hälfte der Alleinerziehenden im Land sind von Armut bedroht. Eine Betroffene zeigt uns, wie sie den Alltag meistert.

Text: Franziska Türk, Fotos: Dennis Mugler

Nur ein Foto auf dem Regal erinnert an Sarahs altes Leben. Darauf posiert sie mit kurzen, lockigen Haaren, stark geschminkt in einer glänzenden Lederhose. Es erinnert an die funkelnden Filmpremieren, die Sarah früher besucht hat. An eine Wohnung am Strand einer pulsierenden asiatischen Millionenmetropole. An das Leben mit einem Stylisten, der sie für TV-Produktionen und Treffen mit Schauspielern herausgeputzt hat.

Ihr neues Leben spielt sich zwischen den Wänden eines WG-Zimmers in einer Heilbronner Dachgeschosswohnung ab. Zwischen den Wänden eines WG-Zimmers, in dem die 42-Jährige, die eigentlich nicht Sarah heißt, mit ihrer kleinen Tochter auf einer Matratze auf dem Boden schläft. Die Sarah von heute hat längere Haare, die sie sich selbst schwarz tönt. Ein Friseur wollte dafür 55 Euro, das war zu viel. Denn die Sarah von heute läuft mit Löchern in den Schuhen durch Heilbronn.

Vor drei Jahren hat Sarahs Mann sie verlassen, den sie 2012 in ihrer asiatischen Heimat kennenlernte und für den sie kurz darauf nach Heilbronn zog. Warum genau, weiß sie bis heute nicht. Seither ist sie mit ihrer dreijährigen Tochter alleine, und aus dem großen Haus am Stadtrand wurde eine Dachgeschoss-WG mit fünf Mitbewohnern. Sarah gehört zu den 45,5 Prozent der Alleinerziehenden in Baden-Württemberg, die laut Mikrozensus von Armut bedroht sind. 

Armut, so etwas kannte Sarah in ihrem früheren Leben nicht, obwohl sie in einem Schwellenland aufgewachsen ist. „Ich hatte ein sehr privilegiertes Leben," sagt die Tochter eines Unternehmers. Erst jetzt, als Alleinerziehende in Deutschland, erlebt sie, was es bedeutet, sich nicht mehr alles leisten zu können. Sich bemitleiden, stillstehen und nichts tun ist trotzdem nicht Sarahs Ding.

Heute fühlt sie sich angeschlagen, spricht mit verschnupfter Stimme, während sie die dreijährige Hannah im Buggy durch die Heilbronner Innenstadt schiebt und versucht, ihre Tochter an den Versuchungen der bunten Schaufenster vorbei zu lenken. 20 Minuten lang hat sie sich hingelegt um sich auszuruhen, dann ging es nicht mehr. „Mein Körper ist nicht gemacht, um sich auszuruhen. Mein Körper ist gemacht, um zu arbeiten.“ So schnell wie möglich möchte sie einen Job finden, egal was. In einigen Bars und Restaurants hat sie versucht, als Tellerwäscherin anzuheuern - erfolglos. Ihr Traum wäre es ohnehin, wieder im Fernsehen Fuß zu fassen.



Seit kurzem bekommt Sarah Unterhalt von ihrem Mann. Deshalb wird das Geld, das sie kurzzeitig vom Jobcenter bekommen hat, wieder gestrichen. Aber es fällt ihr schwer, Geld anzunehmen - das vom Amt wie das ihres Ex-Mannes. Und doch hat sie Glück, Unterstützung zu erhalten: 50 Prozent aller Alleinerziehenden in Deutschland erhalten laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem vergangenen Jahr keinen Unterhalt vom Ex-Partner, weitere 25 Prozent zu wenig oder nur unregelmäßig. In solchen Fällen bezahlt der Staat einen Unterhaltsvorschuss – dieser ist jedoch viel niedriger als der vom Ex-Partner geforderte Mindestunterhalt und liegt bei Kindern in Hannahs Alter bei nur 150 Euro im Monat.

Kürzer treten, jeden Cent umdrehen, sich kostenlose Freizeitbeschäftigungen suchen, das muss Sarah sowieso. Sie liebt Kaffee, Käse, Rotwein. Sie liebt es, in Cafés zu sitzen und Menschen zu treffen. Das tut sie auch heute noch, aber viel seltener. Das fehlende Geld macht einsam: Eine Freundschaft ging zu Bruch, weil sie kein Geld mehr für gemeinsame Freizeitaktivitäten hatte.

Vor kurzem ist sie zu einem kostenlosen Essen in einer Kirchengemeinde gegangen. Nicht der Religion wegen, „wir haben keine Religion, aber ich möchte, dass Hannah lernt, dankbar für das Universum zu sein“. Und nicht wegen des kostenlosen Essens, das wollte sie nicht annehmen. Es ging ihr darum, Menschen zu treffen. Aber dann waren da die Blicke, die ihren Fellmantel und die Kleidung ihrer Tochter musterten. Die Fragen, ob sie Kleiderspenden bräuchten. „Den Mantel habe ich damals bei einem Designer in Köln gekauft“, sagt Sarah trotzig und streicht über den flauschigen Stoff. Trotzdem ist sie dankbar über jede Hilfe, die sie in Deutschland bekommt. „Das soziale Sicherungssystem ist eines der besten überhaupt. Und selbst die kleinste Hilfe hilft.“

Nur nicht stillstehen,  
nur nicht nachdenken,  
immer weiter.

Fast den ganzen Tag ist Sarah in der Stadt unterwegs, macht Behördengänge, geht mit Hannah zu Spieltreffs, trifft Bekannte. „Ich versuche sie den ganzen Tag zu beschäftigen." Nur nicht zurück in die Enge der Wohngemeinschaft im vierten Stock.

Hannah scheint das ähnlich zu sehen. Den Heimweg vom Kindergarten zögert sie so lange wie möglich heraus, wie jeden Tag. Auf der Götzenturmbrücke presst sie ihr Gesicht an die Gitterstäbe und zeigt auf die Enten im Neckar. Vor der Stadtgalerie winkt sie begeistert einem Bekannten. Und in der Fußgängerzone klettert sie auf den Vorsprung eines Brunnens und fischt mit den Händen im Wasser. Hannah liebt Menschen, und Hannah liebt alles was glitzert und funkelt. Und läuft bei ihren Erkundungstouren so zielstrebig durch die Stadt wie ihre Mutter.

Ihre Pässe unterscheiden Mutter und Tochter. Hannah ist Deutsche, Sarah nicht. Egal wo sie sind: Eine von beiden muss sich immer um Visa und Aufenthaltserlaubnisse bemühen. Momentan ist es Sarah, die sich durch den deutschen Bürokratiedschungel kämpft. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist abgelaufen, und nur mit dieser Erlaubnis hat sie Chancen, in Deutschland einen Job zu finden. Nach der Trennung von ihrem Ex-Mann geht sie deshalb zunächst zurück in ihre asiatische Heimat zurück. Aber allein mit Hannah in einer Millionenstadt, das funktioniert nicht. Sie findet keinen guten Job. Hannah hat kein Visum. In Deutschland dagegen warten Freunde. Nach vier Monaten in der Heimat kehrt sie im März 2015 zurück nach Heilbronn.

„Wir müssen jeden Tag kämpfen. Aber wir geben nicht auf."

Doch auch zurück in Heilbronn läuft es nicht gut. Sarah und ihre Tochter landen  in einem Zimmer in einer Obdachlosenunterkunft. Nur nachts kehren sie dorthin zurück, tagsüber sucht Sarah nach einem Zimmer. Nach einem Monat hat sie keine Kraft mehr. Aber der Plan, doch wieder zurück in die Heimat zu gehen, scheitert am Ex-Mann - er erwirkt ein Ausreiseverbot für seine Tochter. „Und Hannah ist jetzt gut im Kindergarten angekommen. Sie braucht die Freundschaft.“ Also sitzen Sarah und Hannah jetzt hier, in ihrem WG-Zimmer. Für den Anfang reicht es.

Wer Sarah trifft, trifft eine stolze Frau mit fester Stimme, festem Blick und ausladenden Bewegungen. Es fällt nicht schwer, sie sich vor der Kamera vorzustellen. Aber in der Enge ihres WG-Zimmers scheint sie zu schrumpfen, wenn sie auf dem Boden sitzt und ihrer Tochter Erdbeeren aus einer Tupperdose zum Naschen gibt. Ihre Betreuerin in der Aufbaugilde, mit der sie sich durch Berge von Anträgen und Dokumenten kämpft, weiß schon: wenn Sarah kommt, dann müssen die Taschentücher bereit stehen.

„Wir versuchen jeden Tag
voran zu kommen, 
Schritt für Schritt."

Den Weg zum Kindergarten joggt Sarah und schiebt Hannah im Buggy vor sich her. Bis 16 Uhr geht Hannah in den Kindergarten, als Sarah sie abholt, sitzt sie vergnügt auf der Schaukel im Garten. „Un, dos, tres“, zählt der Erzieher, der sie anstößt. Im Eingangsbereich steht in vielen verschiedenen Sprachen „Willkommen“ geschrieben. Ein internationales, offenes Umfeld, so wie Sarah es von ihrer Kindheit in Asien kennt, so wie sie es sich für ihre Tochter wünscht.

Weil Hannah schon drei ist, zahlt sie in Heilbronn nicht einmal Kindergartengebühren. Das ist längst kein Normalfall: Je nach Gemeinde werden unterschiedlich hohe Kindergartengebühren erhoben – wenn es überhaupt einen freien Platz in Kindertagesstätte oder Kindergarten gibt. Seit August 2013 haben Eltern zwar einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz ab einem Jahr, doch das bleibt in vielen Städten oft nur Theorie. 33.111 Kitaplätze für unter Dreijährige fehlen allein in Baden-Württemberg. Die Folge: Die Mütter können gar nicht oder nur halbtags arbeiten. Und mit den geringen Beiträgen in die Rentenkasse werden oft schon die Weichen in Richtung Altersarmut gestellt.

Soweit denkt Sarah nicht, für sie ist die Zeit, in der sie von anderen abhängig ist nur ein Lebensabschnitt. Ob sie den Luxus ihres früheren Lebens vermisst? Sie schüttelt den Kopf. Hannah ist jetzt ihr Leben, ihre Verantwortung. „Was auch immer ich für sie tun kann, tue ich." Nur an den alten Job in der Filmbranche, daran denkt Sarah wehmütig zurück. 

Vor einer Woche hat sie sich bei der Filmakademie in Ludwigsburg vorgestellt.