Baracken-Träume

Drei Obdachlose sprechen
über ihr Leben, ihr Scheitern
 und ihre Wünsche

Die Baracken stehen am Waldrand. Vom Tierheim bellen die Hunde herüber. Dass hier Menschen wohnen, davon zeugen nur einige rauchende Kamine. Vor 80 Jahren wurde die Holzbaracke gebaut. Die drei Häuser aus Stein kamen Mitte der 1960er hinzu. 44 Zimmer gibt es im Obdachlosenheim in der Schustermooslohe. Bis zu 120 Menschen wohnten anfangs hier.  Sie kommen und gehen, viele bleiben.

Bis die Schulden weg sind

"Zu lang", sagt Alex N. auf die Frage, seit wann er schon hier ist. Fünf, sechs Jahre, so genau weiß er das nicht. Er kam direkt aus dem Knast hierher. Betrunken und ohne Führerschein Auto gefahren, kein Geld für Strafzahlung gehabt, Gefängnis, Wohnung verloren. Jetzt sitzt der 36-Jährige im typischen Teufelskreis: Ohne Arbeit kein Geld. Ohne Geld keine Wohnung. Ohne Wohnung keine Arbeit. Arbeitgeber und Vermieter schrecken zurück, wenn sie die Adresse der Notunterkunft in der Schustermooslohe lesen.

Alex N. wohnt auf zwölf Quadratmetern. Bad und Dusche sind auf dem Gang, über dem Heizkessel ist die Decke aufgerissen. Bis vor kurzem hat er sich den Raum mit seinem Bruder und Vater geteilt. "Endlich frische Luft", sagt er und grinst. Alex N. grinst immer, abwechselnd sieht das frech oder verlegen aus. Er steht in der Mitte des Zimmers, breitbeinig, die muskulösen Arme verschränkt, im Unterarm sein Name eintätowiert, braunes T-Shirt, Jeans. Um den Hals trägt er eine breite Kette mit Kreuz. Sitzen wird er das ganze Gespräch nicht. Da ist er mit den anderen mehr auf Augenhöhe, von der Körpergröße her. Im Fernseher läuft ein russischer Actionfilm. 2006 ist er mit Vater, Bruder, Oma und "Schwesterchen" von Kasachstan nach Deutschland gezogen, zu Verwandten. Ohne Frau und Sohn. Er zuckt mit den Schultern, murmelt was von Polizei.

Alex N. jobbt manchmal als Leiharbeiter. Aber die Adventszeit bedeutet für ihn vor allem Arbeitslosigkeit. Viele Betriebe machen Urlaub, zahlen Weihnachtsgeld aus. Da bleibt nichts für die anderen übrig. An Weihnachten macht Alex N. nichts Besonderes. In Kasachstan feiert man erst am 6. Januar. Für ihn ist der Höhepunkt des Jahres ein anderer. "Silvester", sagt er und grinst breit. "Große Party, immer besoffen."

Ob er an Gott glaubt? Alex N. schweigt. Er zeigt in die eine Zimmerecke, auf ein Marienbild. Er zeigt in die andere Zimmerecke, auf ein Kreuz mit zwei Kerzen. Er hält das Kreuz hoch, das er um den Hals trägt. Immer noch wortlos dreht er sich um, zieht sein T-Shirt über den Kopf und entblößt ein tätowiertes Kreuz mit den Buchstaben INRI. "Noch Fragen?", sagt er. Ja. Warum ist er gläubig? Er legt seine Hände an sein Herz und sagt einen Satz auf Russisch. So schwermütig klingt diese Sprache. Seine Geste, sein Gesicht verzogen zwischen Lachen und Trauern. Man versteht auch ohne Wörterbuch. "Wegen dem Herz", übersetzt er das Unübersetzbare.

Immer denken, denken.

Was wünscht er sich fürs neue Jahr? Alex N. sitzt nicht, aber jetzt kniet er. "Ein Auto", ruft er und faltet die Hände. "Aber bitte einen Mustang." Er lacht laut, steht auf, nimmt einen Schluck Bier und erzählt. Er will Geld, um seine Frau und seinen Sohn zu finden. Zehn Jahre sucht er sie schon. Die Frau hat den Kontakt abgebrochen, aber wenigstens seinen Sohn, Eduard, will er sehen. "Immer denken, denken", sagt er und verzieht sein Gesicht, nimmt noch einen Schluck. Alex N. bleibt in der Schustermooslohe, bis er seine Schulden abbezahlt hat. Dann will er ganz neu anfangen. Doch als Zwischenstation sei es okay hier. Die anderen Leute seien nett, kein Stress.

Kessy hat ihn gerettet

Für Josef Ullmann ist das Obdachlosenheim keine Zwischenstation mehr. Vor 13 Jahren ist er hier eingezogen, nachdem er aus seiner Wohnung rausgeflogen war. Ullmann hat einen stattlichen Schnauzer und halblange weiße Haare, klare blaue Augen, Jogginghose, Sandalen. "Rentner von Beruf", sagt der 66-Jährige. Er ist der nicht der Älteste in der Unterkunft. Eine Bewohnerin ist über 80. Auch Ullmanns Zimmer hat zwölf Quadratmeter, wirkt aber viel kleiner. Es ist Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer und Rumpelkammer in einem. 9,49 Euro kostet es im Monat. Vor Kurzem hat er seine Stromrechnung für ein halbes Jahr bekommen, 26 Euro. Er heizt mit Holz, einen Sack voll braucht er am Tag. Rente bekommt er so viel, wie ein gelernter Reifenmonteur bekommt, der zuletzt arbeitslos war. Die Einrichtung hat er selbst gekauft. Beim Ofen hat er sich einen mit Sichtfenster eingebildet. Kaffeemaschine und Aschenbecher in Griffweite sitzt er da und schaut ins Feuer. "Das ist mein Fernseher", sagt er. In dem kleinen Zimmer steht die Hitze.

Für Hunde ist das das Paradies hier.

Die Wände sind übersät mit Fotos. Einige vergilbte Familienbilder zeigen ein altes Ehepaar, zwei Kinder in Klamotten aus den 80ern. Ullmann winkt ab, über seine Vergangenheit redet der gebürtige Weidener nicht gern. "Das ist ein anderes Programm." Der Rest der Wand ist beherrscht von einem Motiv: Kessy. Von vorne, im Profil, beim Sitzen, beim Spielen, beim Männchen Machen. Mitten im Raum auf dem Bett thront sie und starrt Ullmann unbewegt an. Der wirft "das Balli", Kessy schnappt zu. Die Dackeldame, ein Mischling in Schwarz und Grau, ist neun Jahre alt. Von klein auf ist sie Ullmanns Gefährtin. Kessy hat ihn gerettet, sagt er. Ohne sie würde er immer noch saufen. Jetzt trinkt er nur noch Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Wenn Kessy Gassi muss, macht er die Tür auf, und sie rennt raus. Das Gelände hat sie ganz für sich allein. "Für Hunde ist das das Paradies hier", sagt Ullmann.

Auf den Beinen ist er nicht mehr gut. Vor zwei Jahren an Weihnachten ist er hingefallen und konnte mehrere Wochen nicht laufen. Ein Nachbar hat ihn damals gepflegt. Der sei jetzt schon tot. Bekannte bringen ihm Holz oder was vom Supermarkt. Erwähnt man das Wort Pflegeheim oder Essen auf Rädern, fängt er laut an zu schimpfen. "Des fehlt no!" Er blickt seinen Hund an. "Wir halten's scho no a paar Jahre aus, gell Kessy." Der Hund blickt hoch und wartet darauf, dass sein Herrchen das Balli wirft.

"Ick bin icke."

Hartmut Wilke betritt den Raum. "Ick bin Icke", stellt er sich vor. "Mich kennt hier jeder." Kessy wirbelt hinter ihm durch die Tür, der nächste Spruch folgt. "Das is'n Bluthund. Wennste drauftrittst, blutet er." Seit 22 Jahren wohnt er nicht mehr in Berlin. Eigentlich hat der 62-Jährige keine Zeit zum Reden, "aber jut". Das Oberpfälzisch von Ullmann mischt sich mit breitem Berlinerisch, wenn die beiden Männer über die Baracken reden. "Keene Isolierung" gebe es. Und die Tür hänge drin "wia a Schluck Wasser in der Kurv'n". Ob die Stadt sich kümmere? Als hätten sie es choreographisch eingeübt, heben beide die Hand und winken synchron ab. "Die denken doch alle, hier sind nur Drogensüchtige, Alkoholiker und Verbrecher", sagt Wilke. "Dabei weiß ich nicht, wann ich das letzte Mal betrunken war." Tatsächlich sieht es hier eher aus wie in einer Wohngemeinschaft von älteren Herren.

Die denken doch alle, hier sind nur Drogensüchtige, Alkoholiker und Verbrecher.

Auch Wilke war im Knast. Eigentlich war ja sein Kumpel schuld. Er wollte ihn aber nicht in die Pfanne hauen. Sagt er. Tischler und Schreiner hat er gelernt, hin und wieder gearbeitet. Jetzt lebt er von Hartz IV. "Mit über 60 nimmt dich doch keener mehr." Manchmal holt er sich Essen bei der Tafel. "Wenn du mal hier landest, kommst du nicht mehr so schnell raus." Aus dem faltigen Gesicht mit den müden Augen - darunter Tränensäcke, darüber buschige Brauen - blickt immer noch der Berliner Bengel heraus. Was er sich zu Weihnachten wünscht? "'Nen Strick, einen goldenen, aber gut geölt." Wilke lacht ein lautes, raues Lachen. "Gesund wollen wir bleiben", sagt er dann. Ullmann wünscht sich 1000 Euro mehr Rente. Auch sie machen nichts Besonderes an Weihnachten. "Sind ja keine Kinder da." Kessy bekommt einen extra großen Knochen. Beim "Alten Schuster" holen sie sich einen Gänsebraten. Der Gastwirt gibt ihnen das Essen billiger.

Draußen im Hof steht der perfekte Weihnachtsbaum. Eine Tanne. Keiner hat sie dort aufgestellt. Der Wind hat ihren Samen einst zwischen das aufgerissene Pflaster geweht. Dort ist sie gewachsen, buschig und aufrecht. Wilke betrachtet den Baum: "Bei uns ist eben jeden Tag Weihnachten."

Text: Beate-Josefine Luber

Bilder: Gabi Schönberger

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