Die Höhlenbewohner des Capo Testa

Seit 3500 Jahren leben Menschen in den Höhlen der sardischen Halbinsel Capo Testa. Auch heute noch.

Recherche und erstmalige Publikation im Jahr 2015.

Zwei Augen blitzen aus der Dämmerung. Wir sind zu spät aufgebrochen und kämpfen uns nach Sonnenuntergang durch die kleiderzerrenden Gebüsche der sardischen Macchia. Er, geräuschlos wie eine Raubkatze, steht plötzlich vor uns. „Buona sera", wage ich in unbeholfenem Italienisch. „Hallo“, erwidert er, „Jack Wolfskin.“ Wer so eine Jacke trage, sagt er und tippt mit seinem Zeigefinger auf die gelbe Wolfspfote auf meiner Brust, „der spricht sicher Deutsch.“ Ich gucke verdutzt aus meiner funktionalen Outdoor-Wäsche, lachend fügt er an: „Ich bin Thorsten.“

Im Mondlicht des Valle della Luna lässt sich Thorsten immer besser erkennen. Er ist eine zähe Gestalt um die Vierzig, mit einer wilden Mähne und einem wuchernden Bart, der in einem säuberlich geflochtenen Zopf endet. Die Haut im Gesicht ist sonnengegerbt wie bei einem Matrosen. Seine Hände gleichen Tatzen, unter den Fingernägeln scheint die Erde unzähliger Abenteuer zu kleben. Im roten Hautstrich zwischen tiefgezogener Kappe und Bart liegen zwei funkelnde Augen. Ihre Farbe gleicht derjenigen des Meeres rund um die kleine Halbinsel Sardiniens, auf der wir uns befinden. Doch weder das eine noch das andere ist um diese Zeit deutlich zu sehen. Wir folgen ihm.

Zwischen Aussteigern, Hippies und Freaks

Thorsten ist einer von fünf Personen, die sich auf dem Capo Testa eingenistet haben. Er nennt sich selbst Aussteiger, seine Gleichgesinnten manchmal „Hippies" oder auch „Freaks“. Aus ganz Europa haben sie den Weg auf die kleine Halbinsel im Norden Sardiniens gefunden und leben nun mit Blick auf das Meer und das nahegelegene Korsika in Höhlen, selbstgebauten Hütten und Zelten.

Sicheren Schrittes jagt Thorsten in ausgelatschten Halbschuhen über die Granitblöcke und findet durch das Dickicht einen Weg zur Küste. Keuchend holen wir ihn ein. „Habt ihr gemerkt?“, fragt er, „hier wird es nie dunkel.“ Tatsächlich: Obwohl die Sonne schon lange untergegangen ist, sind sogar Gesichtszüge noch immer erkennbar. „Das liegt am Graphit in den Steinen“, erklärt uns Thorsten wie ein Reiseführer, „er reflektiert das Mondlicht.“ 

Ohne Taschenlampe finden wir problemlos den Weg in eine Höhle direkt am Meer. Drinnen liegen Kerzen, ein Kochtopf, Kleider und sogar eine Matratze. „Das ist eure Höhle, macht es euch bequem“, ruft Thorsten noch über seine Schulter, „ich komme später nochmals vorbei.“ Wie zwei zufällige Einbrecher in eine fremde Welt stehen wir plötzlich alleine da.

Seit Urzeiten haben sich Menschen auf der Halbinsel im Norden Sardiniens niedergelassen. Die aussergewöhnliche Lage und meteorologische Situation am Bocche di Bonifacio, der Meerenge zwischen Korsika und Italiens zweitgrösster Insel, lockten sie von jeher an. An der Schnittstelle zwischen dem tyrrhenischen und dem westlichen Mittelmeer wehen zwar teils unerbittliche Winde. Doch das Klima ist mild, es regnet deutlich weniger als auf dem restlichen Eiland und eine Süsswasserquelle im Valle della Luna sorgt bis heute für die Verpflegung von Mensch und Tier.

Vor knapp 3500 Jahren waren es Hirten, die zur Zeit der Nuraghenkultur in Clans organisiert in Höhlen ihr Dasein in Nordsardinien fristeten. Die Nuraghen, aus Steinblöcken gebaute runde Kultstätten oder Wehrtürme, sollten sie unter anderem gegen fremde Eindringlinge schützen. Jedoch ohne Erfolg. Bald wurde die Geschichte der Hirten zu einer Geschichte der Vertreibung. Zunächst von den Phöniziern und Puniern in die unwirtlicheren Berggebiete verdrängt, bedeutete spätestens ein Expeditionskorps der Römer 238 v. Chr. den Niedergang der letzten eigenständigen Kultur Sardiniens.

Von der Degradierung der ursprünglichen Bewohner zu Leibeigenen oder Sklaven zeugen auf dem Kap noch heute Steinsäulen und bearbeitete Granitfelsbrocken aus einem römischen Steinbruch. Von der Nuraghenkultur selbst sind auf Sardinien einzig die Überreste der fast 7000 steinernen Türme sichtbar geblieben, die das Landschaftsbild der Insel über Jahrhunderte geprägt haben. Und – wenn man so will – neuzeitliche Nachfolger der Hirten in den Höhlen des Capo Testa.

Spiessbürger auf Abenteuer

Als Thorsten zurückkehrt, beschliessen wir, gemeinsam Abend zu essen. Mein Begleiter und ich haben reichlich Proviant in unseren Trekking-Rucksäcken mitgebracht, was unseren neuen Kumpan sichtlich freut. Als ich dann auch noch die Camping-Gas-Kartusche auspacke, kann sich Thorsten ein Lachen nicht verkneifen. „Das Gas könnt ihr euch sparen, wir können doch ein Feuer machen", deutet er auf die schwarze Stelle neben dem Eingang der Höhle. Wir fühlen uns ertappt in unserem mitgebrachten Bünzlitum und beginnen sogleich Holz für den Höhlenherd zu sammeln.

Im flackernden Licht der Flammen plündern wir die Essensvorräte für einen Linsen-Karotten-Zucchetti-Pasta-Eintopf. „Das ist ja wie eine richtige Einladung in die gute Stube“, sagt Thorsten fröhlich. „Zum Glück habe ich mich vor zwei Tagen gewaschen. Zuvor war drei Wochen lang nix, da bin ich rumgelaufen wie ein Puma.“ Die Karotten will er in die Pfanne reinbeissen statt schneiden, das gehe viel schneller, meint er. Ich bestehe auf den Einsatz meines Schweizer Sackmessers, worauf mir der Ruf des Patrioten natürlich den Rest des Abends anhaftet.

Das dichte Netz der Langsamkeit hat auf Thorstens Reise unzählige Geschichten eingefangen.

Thorsten beginnt beim Essen von seiner Reise zu erzählen, die ihn über Monate von Deutschland via Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Serbien, Kosovo, Albanien und Griechenland nach Italien, Sizilien und schliesslich Sardinien geführt hat. Noch nie hat er auf seiner Odyssee einen Bus oder einen Zug, geschweige denn ein Flugzeug bestiegen. Nur für die Inseln hat er eine Fähre gebraucht. Fahrzeuge seien ihm zu schnell: „Gehen ist schon Transit."

Die dichten Netze der Langsamkeit haben auf seiner Reise Unmengen an Geschichten eingefangen. Thorsten erzählt viel und schnell und wie jemand, der schon lange mit niemandem mehr gesprochen hat. Bislang war er immer alleine unterwegs. Und das soll sich auch nicht ändern. In der Slowakei habe er im Tatra-Gebirge nachts seinen Rucksack vor einem Bergfuchs so gross wie ein Wolf verteidigen müssen.

„Wenn einer aus seinem Porsche eine Büchse wirft, dann schauen alle weg. Wenn ein anderer die Büchse aufhebt, wird er angestarrt."

Zwischen Kosovo und Albanien überwanderte er scheinbar unbemerkt die Grüne Grenze, um kurze Zeit später von vier Soldaten in einer Spelunke im ersten albanischen Grenzort aufgegriffen zu werden. Die Wächter hatten seine Fussspuren im Wald gefunden und mit einem kleinen Ast deren Länge abgemessen. In der Beiz stimmte Thorstens Schuhsohle natürlich mit den Massen des Astes überein. Wie ein Corpus Delicti wedelte der Offizier mit dem Stöcklein vor seinem Gesicht. Erst mit einem spendierten Glas Rakija habe er ihn besänftigen können.

Sizilien habe er fluchtartig verlassen müssen, in Palermo sei er auf einem Ohr halb taub geworden von der ewigen Huperei. Vor einigen Jahren war er fast ohne Geld nach Schweden aufgebrochen. Entlang einer Hauptstrasse sammelte er an einem Tag hunderte Büchsen ein und konnte vom Erlös des Dosenpfands durch halb Skandinavien reisen. An die Blicke habe er sich gewöhnt: „Ist der Ruf erstmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert", gibt Thorsten sein Lebensmotto preis. Das sei seine Überlebensstrategie in einer verkehrten Welt: „Wenn einer aus seinem Porsche eine Büchse wirft, dann schauen alle weg. Wenn ein anderer die Büchse aufhebt, wird er angestarrt.“

„Wo Menschen sind, sind Probleme."

Als gelernter Handwerker hat er in Deutschland lediglich eine Meldeadresse bei einem Freund und bleibt jeweils so lange weg, bis ihm das Geld ausgeht. Sechs Euro am Tag sind budgetiert, mehr brauche er nicht. „Ich kehre nie ein, ich gehe nie aus“, sagt er mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. Sein Erspartes reicht so bis zum Frühling im kommenden Jahr. Dann werde er wahrscheinlich einige Monate in Deutschland Geld verdienen, um möglichst schnell wieder abreisen zu können.

Plötzlich legt Thorsten seinen Löffel hin und hält inne, als ob er draussen vor dem Höhleneingang etwas gehört hätte. „Ich weiss gar nicht, weshalb ich euch das alles erzähle“, sagt er, „ich bin eigentlich durch und durch ein Misanthrop.“ Er verstosse mit dem Gespräch gerade gegen einen seiner Grundsätze. „Wo Menschen sind, sind Probleme. Normalerweise lebe ich wie ein Tier und verschwinde, wenn jemand kommt.“ Wir teilen uns dennoch unsere letzte Zigarette, ehe der Geschichtenerzähler sich vom Lagerfeuer erhebt und aufbrechen will. „Morgen kommen wir dich besuchen“, schlage ich vor. „Wenn ihr mich denn findet“, antwortet Thorsten und verschwindet in der nächtlichen Halbdunkelheit.

Eine Landschaft auf LSD

Das Capo Testa gleicht dem Mars, der Karibik oder auch einem Museum für moderne Bildhauerei. Die verwitterten Tafoni-Felsen in einer Landschaft aus Granitblöcken, Macchiabüschen, Sandstränden und türkisfarbenem Meer bieten einen einzigartigen Anblick. Die Natur hat die Steine in kunstvolle Fabelwesen verwandelt und lässt die Felsen als Dinosaurier, Vogelkopf oder Riesenhand auf der Halbinsel ruhen. „Hier braucht man keine Drogen. Die Landschaft ist auf LSD", hallen Thorstens Worte während unserem ersten Rundgang bei Tageslicht nach.

Überall finden sich Spuren menschlichen Lebens. Ein Totempfahl mit Tierschädel, aus Schnur gebastelte Traumfänger, Malereien auf Steinen und versteckte, volleingerichtete Höhlen zeugen von Thorstens gleichgesinnten Mitbewohnern. Wir fühlen uns bald beobachtet, irgendwo müssen all diese Menschen sein. 

Tatsächlich tritt plötzlich eine zierliche junge Frau aus dem Gebüsch hervor. Sie trägt Gummistiefel, eine verwaschene Leinenhose, dazu eine Regenjacke und die haselnussbraunen Haare hochgesteckt. Bei einem Openair-Festival würde sie nicht im Geringsten auffallen. Zielstrebig und wortlos geht sie an uns vorbei. „Hey, where do you live?“, ruft mein Begleiter ihr nach. „Around“, lautet die leise Antwort, bevor das scheue Wesen wieder in den dichten Büschen verschwindet.

Fünf Aussteiger und ein Anführer

Die fünf Personen leben gemeinsam in einem unverbindlichen Nebeneinander. Sie sind die letzten Überbleibsel einer Hippie-Bewegung, die in den 1960er und 1970er Jahren das Kap zu einem Refugium für Blumenkinder, zum Elysion ihrer eignen Welt gemacht hatten. Reto ist bereits am längsten da und in den Augen von Thorsten auch der einzige richtige Aussteiger. Mit sechs Jahren sei er mit seinen Grosseltern von Deutschland nach Jugoslawien ausgewandert und tingelte danach ohne Papiere durch den Balkan und Südeuropa. Irgendwann habe es ihn auf das Capo Testa verschlagen, seither sei er sowas wie der Anführer der Aussteiger. Er ist als erster gekommen und weist schon mal einen Besucher zurecht, der sich im Trinkwasser der Süsswasserquelle waschen will. 

Die scheue Frau kommt ursprünglich aus Polen, ist seit Jahren in Italien und nun für unbestimmte Zeit auf Sardinien. Martin, der mit seinem Hund, verrissenen Jeans und Lederjacke wie ein Grossstadt-Punk daherkommt und Francesco, ein Italiener, der erfolglos versuchte selbstversorgend zu sein, sind wenig gesprächig. Thorsten selbst wäre eigentlich nur auf Durchreise, Korsika hiess das nächste Ziel. Seit zwei Monaten lebt er nun aber in der Macchia und hat keine Eile, die Büsche wieder zu verlassen.

Tauschgeschäfte mit Meer und Carabinieri

Ausser Reto gehen alle vier bei Bedarf auf den wöchentlichen Markt im nahegelegenen Santa Teresa Gallura. Dort helfen sie, die Stände aufzubauen und wieder abzuräumen und bekommen dafür Gemüse oder einige Euro zugesteckt. Reto hält sich mit Betteln über Wasser. Ansonsten bietet das Meer eine perfekte Tauschbörse an. Der Abfall, der in zuverlässig grossen Mengen mit den Wellen angeschwemmt wird, ist die Materialgrundlage für den minimalen Bedarf an Alltagsgegenständen. 

Thorsten hat sich eine kleine Bialetti-Espressokanne aus dem Wasser gefischt und sie mit einem Sackmesser repariert. Die Silikondichtung war kaputt, als Ersatz hat er eine Motorradtank-Abdeckung gefunden und zugeschnitten. Ob Stühle, Luftmatratzen, Schuhe, Plastikplanen: Alles, was gefunden, aber nicht selber gebraucht wird, stellen die Bewohner hinter einen grossen Stein im Valle della Luna. Wer will, kann sich dort bedienen. 

Das stetige Abfallfischen hat einen positiven Nebeneffekt: Campieren wäre auf dem Capo Testa eigentlich verboten, und die Carabinieri wissen sehr wohl über die Anwesenheit der Aussteiger bescheid. Weil sie aber die Strände sauber halten, werden sie stillschweigend geduldet.

„Das Feuer ist Fernsehen, das Meer ist Kino. Grosses Kino."

Abends kommt Thorsten erneut zu Besuch in unsere Höhle. Er sagt nicht explizit, dass er uns sein eigenes Versteck nicht zeigen will, verrät aber auch nicht, wo im Dickicht es sich befindet. Wir haben tagsüber bereits Feuerholz gesammelt, es beginnt das gleiche Spiel wie am Vorabend. „Bist du nie einsam?", will ich von unserem Gast wissen. „Ich hatte einmal einen Begleiter“, beginnt er zögerlich, „doch den habe ich wieder weggeschickt.“ 

Es sei ein junger Bursche mit einem Hund gewesen, der mit vielen Problemen und einer völlig verklärten Sicht auf die Welt seine Reise angetreten sei. „Jeden Abend wollte er den Sonnenuntergang sehen. Das ist nichts für mich.“ Thorsten sieht den grossen Reiz des Reisens im Gehen an sich. Es sind nicht die fremden Kulturen, Leute oder Landschaften, die ihn in die Ferne ziehen. Es ist der Weg dahin, den es abzuschreiten gilt. Gehen ist seine höchste Tugend, Stehenbleiben das Laster der anderen. 

„Europa hat alles zu bieten.
Ich nehme mir meinen Teil davon."

Die bequeme Häuslichkeit lehnt er ab: „Leute bauen sich schwere Häuser mit hohen Zäunen und können sich nicht mehr bewegen.“ Sein idealer Lebensentwurf basiert auf Verzicht. Den wahren Reichtum der westlichen Welt findet Thorsten nicht im materiellen Luxus, sondern in der Möglichkeit zur eigenen Freiheit: „Europa hat alles zu bieten. Ich nehme mir meinen Teil davon.“ 

Soziale Kontakte scheinen dabei keine grosse Rolle zu spielen. „Menschen langweilen mich. Alleine kenne ich keine Langeweile.“ Schon gar nicht auf dem Capo Testa, wo für beste Unterhaltung gesorgt ist: „Das Feuer ist Fernsehen, das Meer ist Kino. Grosses Kino.“

Eine Hochzeit für 1,50 Euro

Lange ist es still, als ob uns Fernsehen und Kino auch auf dem Capo Testa zum Schweigen bringen würden. „Vielleicht muss man durch Scheisse gegangen sein, um meinen Weg zu wählen", bricht Thorsten die Stille. Eine tiefe Enttäuschung liegt in seiner Stimme. Der Keim seiner Desillusionierung liegt in etlichen missglückten zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Verhältnis zwischen Thorsten und der Welt scheint ein einziges grosses Missverständnis zu sein. 

In Deutschland hat er eine gescheiterte Ehe zurückgelassen. „Für die Hochzeit hatte ich mir ein Hemd für 1,50 Euro auf dem Flohmarkt gekauft“, erinnert er sich. „Die Ringe bastelte ich aus einem alten Leitungsrohr. Puristischer Schmuck ist mir am liebsten.“ Aus der Ehe ist eine Tochter hervorgegangen, gerade letzte Woche habe er sie aus einer Telefonzelle angerufen, um ihr mitzuteilen: „Der Alte lebt noch!“ – sie hat nicht abgenommen.

„Meine Mutter sähe mich lieber am Laufband arbeiten."

Das Erzählen über seine eigene Familie scheint Thorsten weit schwerer zu fallen als über seine Reisen. Er bereue weder seine Ehe, noch dass er eine Tochter hat. Wiederholen würde er aber beides nicht. „Meine Tochter wurde nicht gefragt, ob sie auf der Welt sein will. Jetzt ist sie da und muss schauen, wie sie sich durchschlägt.“ Sie müsse nicht gut finden, was er mache. Das gelte auch umgekehrt. „Jeder verplempert seine Zeit so, wie er will. Wenn ich mich darum scheren würde, was andere denken, könnte ich nicht so leben. Natürlich will ich Anerkennung, natürlich will ich gemocht werden. Aber der Preis dafür ist zu hoch. Meine Mutter sähe mich lieber am Laufband arbeiten. Jetzt würde sie sagen: ‚Schau dir nur den Jungen an, wie er dahinvegetiert'.“

„Bist du glücklich?“, frage ich und zum ersten Mal wendet Thorsten seinen Blick vom Feuer ab. Er druckst herum: „Da sind halt immer noch diese Verpflichtungen und diese Schuldgefühle, dass ich mich nicht öfters bei meiner Mutter melde.“ Seine Reise ist die Suche nach der perfekten Einsamkeit. Sein Drang, nie stehenzubleiben, ein Losreissen von den letzten Ankern der Zivilisation. „Bist du glücklich?“, wiederhole ich meine Frage. „Ich bin nahe dran.“

Grenzen des Paradieschens

Als wir frühmorgens noch in den Schlafsäcken den ersten Kaffee trinken, steht Thorsten bereits wieder bei uns im Höhleneingang. „Ich dacht', ich schau mal vorbei wie’s euch geht", platzt der selbsternannte Menschenfeind herein. Er gehe jetzt ins Dorf Tabak kaufen, ob wir auch etwas bräuchten „aus der Zivilisation“, fragt er mit einem Augenzwinkern. Wir lehnen dankend ab.

Die Halbinsel scheint mit jedem Schritt kleiner zu werden. Rund zwei Kilometer Durchmesser weist das Kap an der breitesten Stelle auf. Ein Damm verbindet die Landmasse mit Sardinien und sorgt für eine touristische Infrastruktur fast bis zum Eingang des Valle della Luna. Wer den schnellsten Weg findet, ist innerhalb von einer Viertelstunde vom Tal bei den ersten Ferienhäusern angelangt. Dort führen geteerte Strassen vorbei an Hotels, einem Tabacchi und dem Postkarten-Sujet Nummer eins, einem weissen Leuchtturm, der wie ein Mahnmal der Schiffbrüchigen über den scharfen Klippen Richtung Korsika thront. 

Nur wenige Meter Luftlinie vom Hippie-Tal entfernt scheinen All-inclusive-Ferien näher zu sein als die angestrebte individuelle Freiheit.

Im Herbst und Winter fast ausgestorben, kann man im Februar nur erahnen, wie es in den warmen Jahreszeiten hier zu und hergehen wird. Auf Tripadvisor finden sich zum Capo Testa über 470 Reviews und ein Certificate of Excellence, Facebook wartet mit einer Gruppe von rund 1800 Mitgliedern und einer vielbesuchten Fanpage auf. Mehr als 24'000 User waren dort, verkündet die Seite.

Nur wenige Meter Luftlinie vom Hippie-Tal entfernt scheinen All-inclusive-Ferien näher zu sein als die angestrebte individuelle Freiheit. Die Winzigkeit des Paradieschens mutet bisweilen absurd an. Trotzdem wohnen einige Aussteiger sogar während des Sommers in ihren Höhlen, ungeachtet der zahlreichen Touristen, Ausflügler und Familien, die dann unmittelbar um sie herum ihre Ferienfotos knipsen. Andere flüchten vor dem saisonalen Zustrom in eine ruhigere Gegend. Zum Beispiel in die Berge, wie die Hirten rund 2000 Jahre vor ihnen.

Im Kokon der Andersartigkeit

Die fünf Höhlenbewohner haben sich eine Parallelwelt geschaffen. Die Grenzen dieses Mikro-Universums sind ideell zwar klar gezogen, müssen aber dennoch regelmässig überschritten werden. Es ist ein Kokon der Andersartigkeit, gebaut aus Abschied, Aufwand und Verzicht, der dauernd verlassen werden muss, um Essen oder Medikamente zu holen, um Tabak zu kaufen, um nach Hause zu telefonieren.

Als Besucher dieser Welt fühlt man sich unweigerlich an Erscheinungen aus dem städtischen Alltag erinnert. Die fünf Aussteiger sind eine Hybridform aus Obdachlosen und Schrebergartenbesitzern. Es ist in Thorstens Fall eine freiwillige Absage an die konsumorientierte Überflussgesellschaft, der er unter freiem Himmel mit einfachsten Mitteln die Stirn bietet, ohne sie dabei gänzlich zu verlassen. Er fristet beileibe kein parasitäres Dasein, ist aber auf eine funktionierende Infrastruktur in seiner unmittelbaren Nähe angewiesen. 

Der stetige Verzicht scheint dabei nicht nur aus finanziellen Gründen notwendig zu sein. Die asketische Lebensweise ist der Sparsamkeit gleichermassen geschuldet wie der Selbstlegitimation. Mit jeder Enthaltung von Bequemlichkeit oder Genuss wird die eigene Andersartigkeit gegenüber dem Rest der Welt wieder neu gefestigt. Seine Askese ist eine Ablehnung der Gesellschaft, die er fürs Überleben braucht.

Ordnung im Busch

Vor unserer Abreise zeigt uns Thorsten doch noch seine Höhle. Nachdem wir durch dorniges Dickicht und über mannshohe Felsbrocken geklettert sind, stehen wir plötzlich vor einem perfekt getarnten kleinen Zelt. „Ich bin mehr der Busch-Typ", sagt Thorsten und führt uns in seinen Ein-Mann-Bau unter den Blättern der Sträucher. Wir betreten ein Zuhause mitten in der Macchia, so peinlich genau aufgeräumt wie ein Reihenhaus. Eine Plastikplane, stramm zwischen den Ästen gespannt, bietet Platz für eine Feuerstelle, einen Klappstuhl und ein kleines Zelt als Schlafplatz. Die Behausung ist aufs Nötigste reduziert und mit einfachsten Mitteln aufs Optimum verbessert. Ein Brett bildet die Küche, darunter zwei Behälter als Schubladen mit Zutaten und Gewürzen. Ein selbstgebauter Kocher aus Aludosen wird mit kleinen Holzstücken für warmes Essen und warme Hände befeuert. An abgebrochenen Ästen hängt Wäsche und ein Schneidebrett. Die Utensilien hat Thorsten allesamt aus dem Meer gefischt. Mit Ausnahme des Zeltes: Das hat er bei seinem letzten Aufenthalt in Deutschland online aus den USA bestellt.

Thorsten ist weit gereist, um die Normen und Konventionen der Gesellschaft hinter sich zu lassen. 200 Kilometer vom europäischen Festland entfernt holen sie ihn trotzdem immer wieder ein. Die gelebte Grenzenlosigkeit bekommt neue Schranken. Als sozialisierter Mensch erfährt er die Unmöglichkeit der vollkommenen Einsamkeit, des totalen Egoismus. Für seine gewonnene Freiheit hat er den Preis der Flucht bezahlt. Und wie jeder Flüchtling hat auch Thorsten einen Ort und eine Vergangenheit hinter sich gelassen. Der Grund zur Flucht war so simpel wie menschlich: Es ist die Suche nach dem eigenen Glück, das er in Deutschland nicht zu finden glaubte. Thorsten strebt genauso ein erfülltes Leben an, wie die Mitmenschen, die er für seine Wanderung zurückgelassen hat. Nicht auf dem gleichen Weg, aber mit demselben Ziel.

Recherche und erstmalige Publikation im Jahr 2015.