Die grösste Gefahr in Kolumbien ist, dass man gerne bleiben möchte…

Ein Reisebericht vom Horyzon-Projektbesuch

Das Horyzon-Programm von YMCA Kolumbien richtet sich an sozial und wirtschaftlich benachteiligte Jugendliche in Armenquartieren Kolumbiens. Es soll verhindern, dass sich Jugendliche bewaffneten Gruppen anschliessen oder von ihnen zwangsrekrutiert werden. Stattdessen entwickeln sich die Jugendlichen des Programms zu eigenständigen Erwachsenen, die auf legale Weise ihren Lebens-unterhalt verdienen und sich für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft einsetzen. 

Das Programm stärkt ihre Kompetenzen in den Bereichen:
• Friedliches Zusammenleben und Konfliktlösung
• Jugendorganisation und Partizipation in der Zivilgesellschaft
• Einkommensbeschaffung 

Der Fokus des Programms liegt auf Bildung. Sie dient als Brücke, damit die Jugendlichen Zugang zu ziviler Partizipation erhalten. Das Programm will die Beziehung der Jugendlichen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt positiv beeinflussen. Die Jugendlichen entwickeln sich zu gesunden, selbstbestimmten und aktiven Erwachsenen. Sie sollen das friedliche Zusammenleben und die soziale Entwicklung in ihren Gemeinschaften fördern, zum Beispiel mit der Kompetenz, sich in von Gewalt geprägtem Umfeld friedlich zu verhalten und als MediatorInnen aufzutreten. 

1'500 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 28 Jahren nehmen jährlich am Programm teil. Sie leben in Situationen sozialer Verletzlichkeit, leiden unter Ausgrenzung und alltäglicher Gewalt und stammen aus armen Verhältnissen.

Hütte in Medellín

1'500 Kinder und Jugendliche nehmen direkt teil. 8'000 Jugendliche und 2'000 Erwachsene profitieren indirekt vom Programm.


Das Programm wird in den Städten Armero-Guayabal, Bogotá, Bucaramanga, Cali, Medellín, Pereira und Quindío durchgeführt.

Die Horyzon-Programmverantwortliche für Kolumbien besucht das Programm einmal im Jahr.

"Nach 9 Jahren bei Horyzon ist die Ankunft am Flughafen in Bogotá schon beinahe wie nach Hause zu kommen. Sofort werde ich eingesogen in den Strom fröhlicher Leute, die im und vor dem Flughafen ihren Besorgungen nachgehen. Viele fragen, ob ich etwas brauche oder sie mich irgendwo hinbringen könnten, da sie sofort sehen, dass ich Ausländerin bin. Die Gastfreundschaft der kolumbianischen Bevölkerung ist für mich noch immer unübertroffen. Es scheint, als freuten sich alle über den Besuch von Touristen, denn sie sind stolz auf ihr schönes Land und möchten gerne vom schlechten Image Kolumbiens wegkommen.
Die Jugendlichen des Programms führen mich denn auch gerne durch ihre Quartiere und erzählen mir ihre Geschichten und die ihrer Stadt."

YMCA kommt regelmässig in diese Quartiere und die Mitarbeitenden werden von den Bandenführern geduldet. Es kann aber auch vorkommen, dass sie an manchen Tagen nicht eingelassen werden.

In Cali treffe ich Kevin und Miguel       

Beide haben beim YMCA die Ausbildung zum Jugendleiter gemacht und sind bereits wichtige Figuren im Leben ihrer Quartiere. Kevin (rechts) ist in einer illegalen Bande aufgewachsen. Sowohl sein Vater als auch sein Bruder waren Sicarios (Auftragsmörder). Als eine verfeindete Bande seine Familie angriff, seinen Vater tötete und ihr Haus niederbrannte, flüchtete er in ein anderes Quartier. Dort lernte er YMCA kennen. Das veränderte sein Leben. Nach der Ausbildung bei YMCA ist er als Jugendleiter in sein altes Quartier zurückgekehrt und hat ein kleines Fitnesscenter aufgebaut. Über den Sport kommt er in Kontakt mit anderen Jugendlichen und hilft ihnen sich aus der Gewalt zu befreien.

Wie immer auf Besuch bei unseren Programmen bin ich beeindruckt von den Jugendlichen, die sich trotz widrigster Umstände ein besseres Leben erkämpfen. Ihre Geschichten machen mich traurig, rühren mich zu Tränen, bringen mich aber auch zum Lachen und geben mir die Hoffnung, dass wir mit unserer Arbeit tatsächlich dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort für die Kinder und Jugendlichen zu machen.


So habe ich zum Beispiel in Bogotá Anderson wieder getroffen (in der Mitte mit Perücke). YMCA organisierte einen Friedensmarsch mit den Jugendlichen durch Cazuca, eines der am stärksten vom Drogenkrieg betroffenen Quartiere Bogotas.


Anderson ist einer der Jugendleiter in Cazuca, wo er aufgewachsen ist und leitet unter anderem eine Tanzgruppe. Früher war er selbst in einer bewaffneten Bande und dank YMCA hat er den Ausstieg gefunden. Aber leider lässt die Vergangenheit die Jugendlichen nicht so einfach los. Die Banden sind für die Jugendlichen wie eine Familie und sie suchen auch nach Jahren noch nach ihren ehemaligen Mitgliedern. Auch nach Anderson. Vor kurzem haben sie ihn wieder kontaktiert und bedroht. Deshalb musste er Cazuca verlassen und nach Bosa umziehen. Trotzdem kommt er für seine Tanzgruppe noch mehrmals in der Woche nach Cazuca und ist ein Vorbild für viele die aus Angst noch nicht aus den Banden ausgetreten sind.

Meine Begegnung mit Julieth hat mich sehr berührt. Ich traf sie ebenfalls in Bogotá, wo sie eine Theatergruppe vom YMCA leitet.

Bei einer Aktivität, bei der die Jugendlichen eine Gewaltszene darstellen, wie sie sie fast täglich erleben und die Besucher die Szene mit allerlei Requisiten zu einer Spielszene um modellieren sollen, fällt der Blick auf ihr Dekolleté. Da erscheint ein Tattoo mit einem Schriftzug wie auf einem Grabstein.


Julieth erzählt, dass ihr bester Freund Camilo in einer Bande war, um Geld zu verdienen, da er sich allein um seine kleineren Geschwister kümmern musste. Eine andere Bande hat ihnen aufgelauert und Camilo den Hals aufgeschlitzt. Er sei in ihren Armen gestorben. Seither hat sie sich YMCA angeschlossen, weil YMCA wirklich etwas für den Frieden in ihrer Stadt macht und den Jugendlichen andere Perspektiven bietet. Sie will nicht noch mehr von ihren Freunden in Bandenkriegen sterben sehen.

Geschichten wie diejenigen von Anderson, Kevin und Julieth zeigen, wie wichtig das YMCA-Programm nach wie vor ist. Und sie zeigen auch, wie nachhaltig die Ausbildung das Denken und Handeln der Jugendlichen beeinflusst. Sie weigern sich in die Gewaltspirale zurückzufallen und bauen an einer positiven Zukunft.

Ich freue mich, mit dem Horyzonprogramm von YMCA Kolumbien dazu beitragen zu können.

Die aktuelle Phase des Programms läuft noch bis Ende 2018. Die Weiterführung des Programms 2019-2021 ist bereits in Planung."

11.05.2017

Irène Hofstetter, Programmverantwortliche Lateinamerika