Zauberhaftes Florida
Glücksritter, Sumpfmenschen und
ein Hauch von Hemingway
PROLOG
Sein Kopf ist langsam auf den Teddybären gesunken. Wovon träumt dieser kleine Mensch wohl gerade im Himmel über Florida?
Ein Funkspruch unterbricht meine Gedanken. Der böige Wind hat sich gelegt. Wir steuern auf Südkurs.
"ALL GOOD"
Scott Larsson wirkt entspannt, lässt sich Zeit und will alle Papiere sehen: Meinen amerikanischen Pilotenausweis, Medical und das Flugbuch mit den Eintragungen für „Complex Aircraft" – in der Definition der amerikanischen Behörde ein Flugzeug mit Verstellpropeller, Einziehfahrwerk und Landeklappen. Draußen auf dem Vorfeld wartet in der Morgensonne eine strahlend weiße Piper Arrow mit der Registrierung N2134T.
Der Fluglehrer lässt mich einen ausführlichen Außencheck der Maschine machen. Danach steigen wir in das Cockpit, klicken die Gurte ein und arbeiten die Checkliste ab. Der Lycoming-Motor mit dem Dreiblatt-Propeller springt sofort an und brummt sauber. Langsam rollen wir zur Runway 9R auf dem „Bartow Municipal Airport", einer ehemaligen Luftwaffenbasis rund 45 Minuten östlich der Metropole Tampa im US-Bundesstaat Florida.
Bill, ein Pilot, den ich im Vorjahr kennengelernt hatte, empfahl mir seinen Heimatplatz als Ausgangsbasis: „Kleiner Platz, freundliche Leute. Ihr werdet euch wohl fühlen."
„Cleared for take off Runway 9 Right." Scott lotst mich zum Flugplatz von Wauchula, wo wir drei Touch-and-Go auf der Bahn 18/36 fliegen. Danach will er noch Steilkurven und einfache Stalls sehen. Er ist zufrieden: „Good to go", sagt Scott und dann noch „lunch time.“ – Mittagessen. Mein Checkout ist nach einer knappen Stunde vorbei, in der wir auch noch den Platz von Kissimmee angeflogen sind.
Wir entscheiden uns für Mittagessen in St. Petersburg und bestellen am Albert-Whitted-Airport unser Lunch. Scott erzählt Geschichten von seinem Vater, der lange bei der Air Force war und wir tauschen Fliegergeschichten aus. Der Fluglehrer hat zumindest etwas Europa-Erfahrung und schwärmt: „Unglaubliche Panoramen, aber verdammt hohe Berge. Ich habe viel Respekt." Ich pflichte ihm bei, dass es europäischen Piloten nicht anders geht.
Scott schüttelt mir nach der Landung in Bartow die Hand: „Passt gut auf euch auf. Ruf mich an, wenn ich helfen kann.“
"Kleiner Platz, freundliche Leute. Ihr werdet euch wohl fühlen."
Er muss es nicht erwähnen, der Gedanke ist ständig im Hinterkopf: Dieses Mal ist meine Familie, Astrid und Mikko, mit in den USA. Die Flüge über Florida sollen der krönende Abschluss unseres zweiwöchigen Urlaubs sein. Hinter uns liegt bereits ein Ausflug nach Orlando mit Besuchen bei Mickey Mouse und Co.
Am Tag nach meinem Checkout steht unser Mietwagen vor dem Flughafengebäude von Bartow und wir schlichten unsere Taschen vorsichtig in die geräumige Piper. Sechs Tage Miete, 150 Dollar inklusive Sprit pro Stunde – für europäische Piloten ein Traum. Einzige Bedingung: Rund 2,5 Stunden Flugzeit am Tag sollten es am Ende im Durchschnitt sein. Aber auch hier zeigt sich wieder der Vorteil eines kleineren Vermieters (Bartow Air Service gehört der Gemeinde): „Wenn es ein bisschen weniger ist, dann werden wir ein Auge zudrücken."
Als Gratis-Leihgabe gibt es dann auch noch einen Garmin ADS-B-Empfänger von meinem Pilotenfreund Bill obendrauf, mit dem sich in den USA dank terrestrischer Stationen nicht nur der Verkehr, sondern auch das Wetter in Echtzeit auf das iPad spielen lässt. Das kleine schwarze Empfangsteil wird uns in den kommenden Tagen mehrmals gute Dienste erweisen.
Die Piper ist vollgetankt, Mikko hat auf dem Rücksitz Platz genommen, Astrid neben mir. Wieder starten wir von der Bahn 9R. Ich habe den Flug entlang der Küste und der Stadt Venice nach Fort Myers (Page Field KFMY) geplant, wo wir zum ersten Mal tanken wollen. Das nächste Leg führt über die Everglades und den Golf von Mexiko nach Key West.
Untypisch für Florida liegt bei 3000 Fuß eine dichte Wolkendecke über dem südlichsten US-Bundesstaat. Wir bleiben auf 2000 Fuß, natürliche Hindernisse gibt es in dem praktisch völlig flachen Land nicht. Einzig hohe Antennenmasten ragen oft hunderte Meter in den Himmel und wollen umflogen werden. Böiger Wind vom Meer schüttelt die Piper, während uns der Radar-Controller von Tampa International das erbetene Flight Following gewährt. Wir haben damit ein weiteres Auge im Himmel, das uns über etwaigen Verkehr und schwierige Wetterbedingungen auf unserem Flugweg informiert.
Nur Mut!
Wie schon in meinem letzten Bericht beschrieben, fliegt man mit Flight Following weiter VFR, allerdings unter den wachsamen Augen eines Radarcontrollers. Im Gegensatz zu den uns aus Europa bekannten "Information-Frequenzen" erhält man fallweise auch konkrete Headings und Höhen um als VFR-Traffic durch kontrollierte Lufträume gelotst zu werden oder anderen Traffic zu umfliegen und ist immer mit dem Radarcontroller des jeweiligen Sektors verbunden.
Gerade in der Nähe von Bravo-Lufträumen um die größten Flughäfen der USA ist Flight Following unerlässlich. Letztverantwortlich ist natürlich immer der Pilot in Command, denn Flight Following ist ein freiwilliges Service des Radarcontrollers, das bei zu hohem Verkehrsaufkommen abgelehnt werden kann.
In Pilotenforen liest man immer wieder von falschem Respekt oder gar Angst vor dem schnellen Englisch der Controller, egal ob Ground, Tower oder Radar. Ich kann das nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch vom Mithören am Funk nur schwer nachvollziehen. Im Gegenteil: Man merkt fast immer allen Beteiligten an, dass es um Service am Piloten geht. Die einzige Ausnahme habe ich bei meinem ersten USA-Trip mit den Controllern von Daytona erlebt, die aber hörbar überlastet waren und keine weiteren VFR-Flieger mehr betreuen konnten oder wollten.
Durch meinen Beruf und längere Aufenthalte in den USA habe ich naturgemäß einen kleinen Startvorteil, allerdings sind vor allem die Controller Floridas an eine bunte Mischung aus urlaubenden Piloten in ihren Lufträumen gewohnt. Es gilt die Devise: nur Mut! Sobald der Controller merkt, dass man nicht alles verstanden hat, wird im Regelfall der letzte Funkspruch in wirklich verständlichem Englisch wiederholt. Das schafft nicht nur Klarheit, sondern der Controller spart dadurch auch Zeit, um sich nicht ständig wiederholen zu müssen. Selbst amerikanische Piloten fragen nach.
Tampa Approach nimmt uns äußerst freundlich auf der Frequenz in Empfang und vor uns taucht die Westküste Floridas mit der Stadt Venice auf. Nur wenig später werden wir bereits an Fort Myers Approach übergeben. Die Piper schnurrt, ich habe den Autopiloten aktiviert und wir gehen gemeinsam das Anflugblatt von Page Field durch. Der Platz bietet, wie so oft in Florida, zwei sich kreuzende Pisten. Die ATIS verspricht Spitzen bis zu 19 Knoten, dank der Pistenanordnung kommt der Wind aber direkt von vorne. Fort Myers Approach verabschiedet uns mit einem knappen: „2134 Tango, Contact Page Tower."
Ich freue mich auf den Platz, der 2002 und 2008 als bester General Aviation Airport Floridas ausgezeichnet wurde. 2011 wurde zudem noch ein neues Gebäude errichtet, dass mit seiner hellen Glasfront und wunderschönem Design die Pilotenherzen höher schlägen lässt. Der gute Ruf bestätigt sich, denn nur Minuten nachdem wir auf der Runway 13 gelandet sind, umringen uns gleich drei Flughafenangestellte: Sprit ist sofort verfügbar und meine Familie wird Richtung Gebäude geleitet, während ich beim Tanken dabei sein will. Eistee und Wasser gibt es kostenlos und nach 20 Minuten sind wir wieder im Flugzeug.
Das nächste Leg führt nach Key West und ich bin es in Gedanken wohl tausend Mal geflogen. Der Weg über die scheinbar endlosen Weiten der Everglades war schon 2015 einer der eindrucksvollsten Momente meines Fliegerurlaubs. Dieses Mal darf ich ihn mit meiner Familie teilen.
„After departure fly runway heading, climb 1500 feet" funkt der Tower von Page Field. Nach einigen Minuten werde ich ein wenig nervös, weil uns die verlängerte Pistenrichtung praktisch kerzengerade über den benachbarten Southwest Florida International Airport von Fort Myers führt. Ich versichere mich beim Controller, ob die Sightseeing-Tour über den großen Airport auch so gewollt ist. Ein kurzes Lachen am Funk: „Yes sir, enjoy the view." Wir fliegen in 1500 Fuß neben Piste und Terminal und schauen einem landenden Jet zu. Kurz darauf heißt es dann: „Resume own navigation."
Ich habe seit kurzer Zeit nichts mehr von der Rückbank gehört und drehe mich um. Mikko schläft, seinen Teddybären hält er fest im Arm. Der nächste Funkspruch unterbricht meine Gedanken. Der böige Wind hat sich gelegt. Wir steuern auf Südkurs.
Mit dem Hinweis auf schlechten Empfang unter 3000 feet werden wir an Miami Center übergeben. Ich stelle den Autopiloten auf Steigflug und die Nadel des Höhenmessers beginnt langsam sich zu bewegen.
"Wovon träumt dieser kleine Mensch wohl gerade
im Himmel über Florida?"
Sumpfmenschen
Vor uns liegen die Everglades, jenes 6000 Quadratkilometer große Feuchtgebiet, das von den Indianern „Pa-hay-okee" (“Fluß aus Gras") genannt wird. Die Erklärung: Auch wenn die Everglades immer als Sumpf bezeichnet werden, so handelt es sich genaugenommen um ein riesiges, langsam fließendes Gewässer. Aus der Luft sieht der Naturpark aus wie der größte Abenteuerspielplatz der Welt, Wasser und Sonne haben die Grundlage für einzigartige Flora und Fauna geschaffen. Intensives Grün löst die eng bebaute Küste Floridas ab. Der Anblick ist atemberaubend.
Bei meinem ersten Flug in Florida habe ich an der gleichen Stelle vor allem an den weiteren Flugweg gedacht, ständig Tanks und Instrumente überprüft und Umkehrszenarien entworfen. Das grüne Land unter dem Flugzeugbauch erschien mir als furchteinflößender Gegner. Dieses Mal ist alles anders und ich genieße diesen intensiven Moment voll unglaublicher Freiheit.
Die Welt liegt uns in solchen Augenblicken scheinbar zu Füßen und wenn wir sie mit Respekt behandeln, bietet sie uns Eindrücke, die ein Leben andauern.
In der Ferne taucht die kleine Stadt Everglades City auf, die auch als Tor zu den Everglades bezeichnet wird. Wenige Häuser, allesamt auf Holzstelzen, Straßen im Schachbrettmuster. Im übrigen Florida nennen sie die Bewohner der Everglades „swamp people" – Sumpfmenschen. Die Leute in den Everglades sind ein eigenes Kapitel: Eigenbrötler, Ausgestoßene, Schmuggler und Einsiedler haben hier Geschichte und Geschichten geschrieben. Heute gelten die Everglades neben den Themenparks Orlandos und Floridas Stränden als die größte Attraktion des Bundesstaates.
"Intensives Grün löst die eng bebaute Küste Floridas ab.
Der Anblick ist atemberaubend."
Vom Everglades Airpark (X01), den wir genau überfliegen, nehmen wir direkten Kurs auf Marathon Key (KMTH). Der kleine Airport ist auch unser Alternate, sollten wir in Key West aus irgendeinem Grund nicht landen können. Vor uns lassen sich langsam die wunderschönen Keys erkennen und Miami Center versichert sich am Funk noch einmal, dass wir nicht in Marathon Key, sondern in Key West landen wollen. Ich bestätige das und wir werden released: „Contact Key West Approach 124,02."
Die Frequenz wird von der US-Marine betreut, die eine große Basis auf Key West betreibt. Das Prozedere ist eigentlich recht einfach: Die Militärcontroller geben den Durchflug durch ihren Luftraum frei. Zumeist wird man dann auch im gleichen Funkspruch an den Tower von Key West übergeben.
Doch dieses Mal verläuft alles ein wenig anders: „2134 Tango contact Navy Tower 118,57 for transition." Offenbar sind gleichzeitig mehrere Flugzeuge im engen Luftraum von Key West unterwegs und die Controller teilen sich die Arbeit.
Ich wechsle die Frequenz: „Navy Tower, 2134 Tango“, „2134 Tango, Navy Tower good day, remain 3 miles south of the shoreline, report abeam my tower.“
Vor uns übt eine King Air Anflüge und der Navy Tower übergibt uns praktisch direkt an den Tower des Key West International Airport, der sich auch umgehend meldet: „2134 Tango, Key West tower, good day, I have traffic for you in just a moment. It will be a Lockheed P-3.“
Tatsächlich: Nur wenige Meilen vor uns sehen wir das schlanke viermotorige Radarflugzeug „P-3 Orion“ der Navy, das deutlich unter uns in Gegenrichtung unterwegs ist. Wie wir später hören, unterstützt die Navy damit den Kampf gegen etwaige Schmuggler entlang der Küste.
„Contact Key West Approach 124,02."
Der Controller von Key West Tower scheint einen guten Tag zu haben, ich erbitte die „Island Tour clockwise", die auch umgehend genehmigt wird. Damit dürfen wir Key West im Uhrzeigersinn umrunden.
Die „Conch Republic“, wie die Insel scherzhaft von den Einheimischen genannt wird, liegt jetzt rechts, das Meer glitzert türkis-blau. Ich bitte um eine anschließende Linkskurve, um uns zur Piste zurückzuführen. Auch diese wird anstandlos genehmigt und wir reihen uns für ein kurzes Final auf die Piste 9 ein.
Der Controller bittet uns noch, nach großen Raubvögeln Ausschau zu halten, die offenbar in den letzten Tagen den Flughafen unsicher gemacht haben. Wir entdecken allerdings nur zwei gelangweilte Pelikane, die auch beim Herannahen unserer Arrow keine Anstalten machen sich zu bewegen.
Der Endanflug auf die Piste 9 wirkt wie ein Gemälde. Dort, wo das Meer auf das Land trifft brechen sich die Wellen im Licht. „Cleared to land runway 9.“ Astrid liest noch einmal die final checklist vor, kurz darauf setzen wir satt auf.
Welcome to Key West.
"Der Endanflug auf die Piste 9 wirkt wie ein Gemälde."
Wir rollen zu unserem Abstellplatz bei Signature Aviation. An der gleichen Stelle hatte ich ein Jahr zuvor meine kleine Piper Warrior abgestellt und die Freundschaft von zwei Jetpiloten und Meg Cardino gemacht. Die Mitarbeiterin des Handling Agents begrüßt uns herzlich – wir waren seit damals via Facebook in Kontakt geblieben – und mit kugelrundem Bauch: ein Baby mit Hang zur Luftfahrt kündigt sich an.
Wie sich später herausstellt, war der freundliche Navy-Controller, der uns durch den Luftraum um Key West führte, Megs Ehemann. Nach insgesamt zweieinhalb Stunden Flugzeit betreten wir die Insel und knipsen Fotos vor der Piper, die uns sicher über die Everglades und das Meer getragen hat.
Vor ziemlich genau 25 Jahren war ich zum ersten Mal mit meiner Mutter und Freunden auf Key West. Jetzt klettert mein verschlafener Knirps vom Rücksitz hinaus auf den Apron.
Besuch bei „Papa"
Die nächsten beiden Tage verbringen wir im Cabana Inn, einem wunderschönen Ressort direkt am historischen Hafen, wo vom Lärm der feiernden Touristen nichts zu bemerken ist. Key West hat viele Gesichter: Einerseits ist die Stadt schrill, laut und teuer. Andererseits aber auch verschlafen, entspannt und gemütlich. Das Festland ist weit entfernt und hier herrscht „Island Time“. Die Dinge geschehen gemächlicher, ruhiger und unaufgeregter.
Neben den partysüchtigen College-Kids und übrigen Nachtschwärmer finden sich hier tatsächlich noch Fischer und ein Hauch von „Old Florida“ – als Männer noch den ganzen Tag lang als Fischer zur See fuhren, Piraten die Gewässer unsicher machten und Kubaner bei Nacht in leckenden Booten versuchten, auf der Suche nach einem besseren Leben in die USA überzusetzen.
Diese besondere Mischung Key Wests hat nicht nur Glücksritter, sondern vor allem einen großen Namen angezogen. Seit ich mich halbwegs für Literatur interessiere, hat mich Ernest Hemingway fasziniert.
Unter scharfem Protest – aber dann doch irgendwie – schaffen wir es, unseren Sohn dazu zu überreden, mit uns das Hemingway-Haus zu besuchen. „Papa“ Hemingway hat hier mit „A Farewell to Arms“ („In einem andren Land“) eines meiner Lieblingssbücher geschrieben. Das Haus wurde in den fünf Jahrzehnten seit dem Tod des Nobelpreisträgers liebevoll gepflegt und bewacht: Die Nachfahren der Hemingway'schen Katzen räkeln sich heute noch in der Sonne Key Wests rund um den Kolonialbau.
Ausgeruht planen wir einen Tagesausflug in die Everglades und zum nur 45 Flugminuten entfernten Everglades Airpark. Die Piste ist 732 Meter lang und damit einer der kürzesten der USA. Mein Pilotenfreund Bill, mit dem ich vor der Abreise nach Key West meine Pläne besprochen hatte, mahnte mich eingehend, vorsichtig zu sein. Meinen Einwand, dass wir in Europa auf Pisten landen würden, die deutlich kürzer sind, nahm er nur ungläubig zur Kenntnis. In Amerika gilt so ziemlich jede Piste ohne Asphalt oder Beton mit einer Länge von weniger als einem Kilometer als Buschfliegerei.
Der Zeitungsleser
Als größeres Problem erweist sich jedoch, die Piste zu finden. Das Wetter in Key West ist erfolgsversprechend, doch je näher wir Richtung Festland fliegen, desto stärker wird die Bewölkung, bis wir über einer geschlossenen Wolkendecke in 7000 feet angekommen sind. Ich wusste aus der Vorbereitung, dass die Plätze weiter oben im Norden problemlos VFR anfliegbar waren, nur ausgerechnet über den Everglades liegt jetzt eine Wolkenschicht.
Die Verlockung, mit einem kurzen Sinkflug durch eines der zahlreichen kleinen Löcher zu stoßen, ist groß. Ich will aber kein Risiko eingehen, was weniger später belohnt wird. Praktisch exakt über dem Flugplatz entdeckt Astrid auf ihrer Seite ein großes Loch, ich melde mich bei Miami Center ab und setzte meinen Plan, mit mehreren 360 Grad-Kurven direkt über dem Platz zu sinken, als Blindmeldung ab. Erwartungsgemäß ist keine Antwort zu vernehmen und in 1000 feet überfliegen wir die Piste 15/33 im 90 Grad-Winkel um nach dem Windsack Ausschau zu halten, der jedoch nicht zu sehen ist.
In Folge mache ich einen kleinen Anfängerfehler, denn mein erster Landeversuch folgt auf die Piste 33 – in die vom Meer abgewandte Richtung. Kleine Lektion: Sollte bei einem Flugplatz in Meeresnähe keine Windinformation verfügbar und kein Windsack sichtbar sein, ist die Piste Richtung Meer viel eher zutreffend. Der Rückenwind ist deutlich merkbar und bereits kurz vor der Pistenschwelle schiebe ich das Gas wieder hinein, ziehe die Nase der Arrow nach oben und fahre kurz darauf Fahrwerk und Klappen ein. „Everglades Airpark, Piper 2134 Tango is going around." Ich fliege ein Stück vom Platz weg und ziehe die Piper in eine großzügig bemessene 180 Grad-Kurve auf die Piste 15. Dieses Mal kommt der Wind direkt auf die Nase und ich muss am Boden sogar noch einmal kräftig Gas geben um am einzigen Taxiway die Runway zu verlassen.
Wir stellen die Piper ab und klettern die Stufen hoch ins Airport Office, das bis auf einen zeitungslesenden Gast völlig verwaist ist: Mittagspause. Ich frage den Zeitungsleser mit erneutem Gruß, wie ich hier wohl an Sprit kommen könnte. „Im Moment ist keiner da. Unten ist ein Automat“, antwortet er, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Ich denke: Sumpfmensch. Am Apron ist es brütend heiß, die hohe Luftfeuchtigkeit lähmt jede Bewegung und ich bemerke etwas zerknirscht, dass wir offenbar keine Radgabel dabeihaben, um den Flieger zu ziehen. Irgendwie bekomme ich die Piper dann aber doch zur Tankstelle, ziehe meine Kreditkarte durch das Lesegerät und tanke.
Zurück im Airport Office ist noch immer niemand da – außer meiner Familie und der Zeitungsleser – der sich dann doch fast beiläufig erkundigt, woher wir eigentlich kommen. Als wir Österreich erwähnen, sinkt der Zeitungsrand ein Stück ab und ein überraschend freundliches Gesicht kommt zum Vorschein. „Austria?" Wir nicken. Aus dem Unbekannten sprudelt es plötzlich heraus: Großartiges Land und die Leute überhaupt und er würde sogar Verwandte dort haben, seine Großeltern seien aus Österreich ausgewandert und er wäre sogar vor einigen Jahren bei entfernten Cousins zu Besuch gewesen. Wo genau? Kein Scherz: Klagenfurt, unsere Heimatstadt.
Die Wahrscheinlichkeit dürfte einem Lottosechser entsprechen: Der zuvor noch so schweigsame Mann hat Wurzeln in Kärnten und fliegt im Sommer Gäste durch Alaska und im Winter über die Everglades. Wir tauschen noch Geschichten aus, er will alle Details unseres Fluges wissen, wir bekommen im Gegenzug gute Tipps für die Airboot-Tour sowie eine Einladung nach Alaska.
Wir entscheiden uns vorerst für die Airboot-Tour durch die Everglades und dürfen dabei Alligatoren und heimische Vögel aus ungewohnter Nähe bestaunen. Warum die Tiere bei dem unglaublichen Lärm der Boote nicht sofort die Flucht ergreifen, bleibt uns schleierhaft. Nach einem aus „Stone Crabs“ bestehenden Mittagessen, die Krabben sind quasi Nationalspeise der Everglades, brechen wir wieder zum Flugplatz auf. Wir verabschieden uns noch beim Zeitungleser, der inzwischen an seiner Cessna herumschraubt. Nach einem Erinnerungsfoto – „Ihr müsst nach Alaska kommen!“ – klettern wir in unsere Piper. Mit halb offener Tür rollen wir zur Runway, das ist in Florida durchaus Usus, denn im Innenraum hat es gefühlte 70 Grad.
Der Rückweg verläuft unspektakulär, Sonne und Wind haben die Wolken vertrieben und wir fliegen 4000 feet über dem Meer nach Key West. Rund 15 Minuten vor dem Platz und bereits auf der Tower-Frequenz gibt es allerdings noch eine kleine Show-Einlage. „2134 Tango, traffic, four fighters crossing right to left, lower" Nach einigen Sekunden tauchen dann auch vier F-18 „Hornet“ auf, die in enger Formation zur „Boca Chica“ US Navy Basis auf Key West zurückkehren. Bereits deutlich vor dem Platz heißt es „Cleared to land runway 9“. Ich setze die Piper dieses Mal deutlich sanfter auf und wir rollen wieder zu Signature Aviation. Die Pelikane sind verschwunden. Wir vermuten: hitzefrei.
Nach einem weiteren Tag in unserem Inselparadies, wir haben spontan unseren Aufenthalt in Key West um eine Nacht verlängert, heißt es dann allerdings endgültig Abschied nehmen. Meg empfängt uns am Platz, aber ich bin mir unsicher: Die Wettervorhersagen sind vage und selbst ein Telefon-Briefing (unter der kostenlosen Nummer 1-800-WX-BRIEF erhält man in den USA eine ausführliche Wetterberatung) bringt nur wenig Aufschlussreiches. Eine breite Front hängt mitten über Florida und bewegt sich nur äußerst träge nach Norden.
Ungeplanter Zwischenstopp
Wir passen unseren Plan an und fliegen zuerst das kurze Stück von Key West nach Marathon Key, wo der Sprit fast um die Hälfte billiger ist. Den weiten Transportweg nach Key West lässt sich der Handling Agent offenbar fürstlich bezahlen und verlangt ganze 7,50 Dollar pro Gallone, in Marathon sind es nur knappe vier Dollar.
Ich checke noch einmal das Wetter, das sich deutlich verbessert hat, allerdings meldet uns ForeFlight, die App für das iPad, bereits beim Abflug, dass nach wie vor dicke Regenwolken über dem Rückflug-Tagesziel Naples hängen. Auch dafür findet sich eine Lösung. Wir nehmen stattdessen den kleinen Platz Marco Island (KMKY) ins Visier, dessen Metar und TAF selbst nach strengen Gesichtspunkten in Sachen Sicherheit vielversprechend aussehen. Wir überfliegen erneut den Everglades Airpark, den wir mittlerweile aus allen Richtungen erkennen, und nehmen Kurs auf Marco Island.
Was im Metar als „scattered" bezeichnet wurde, erweist sich allerdings als eher durchbrochene Bewölkung. Wir sinken langsam, finden dann doch ein großzügig bemessenes Loch, das sich praktischerweise nur wenige Meilen neben dem Flugplatz befindet und sind wenig später am Boden. Unter den Wolken sehen wir, wie nur 10 Meilen vor uns Regenschauer Naples einhüllen. Ich bin froh, die sichere Variante gewählt zu haben und wir stellen uns auf eine Nacht im verschlafenen Marco Island ein.
Gähnende Leere im Flughafengebäude, Autovermietung und Schalter sind allerdings offen. Ich erkläre kurz, dass wir eigentlich nach Naples wollten, uns aber für Marco Island entschieden hätten. „Wait", sagt der Mann am Schalter, abwarten.
Ob Zufall oder meteorologisches Gespür – eine Stunde später bietet sich ein völlig anderes Bild. Draußen am Vorfeld erwartet uns ein fast wolkenloser Himmel. Wir fliegen doch noch sage und schreibe elf nautische Meilen nach Naples weiter und ersparen uns so eine längere Taxifahrt. Ein wenig bin ich dann doch stolz, als ich den Tag Revue passieren lasse: Kein Risiko, praktisch volle Tanks. Im Notfall hätten wir auch locker einen der großen Plätze an der Ostküste erreichen oder nach Key West und Marathon Key umkehren können. In der Piper befinden sich beim Abstellen noch mehr als 30 Gallonen Sprit.
Früher Schlafenszeit ist angesagt, denn der Plan für den nächsten und gleichzeitig Tag ist anspruchsvoll: Wir fliegen von Naples nach Bartow, holen dort Bill ab und mit ihm als Co-Pilot – Astrid muss ausnahmsweise zu unserem Junior auf die Rückbank – wollen wir nach Jekyll Island (09J), einer kleinen Insel vor der Küste Georgias, auf der einst die Reichen und Schönen Amerikas urlaubten.
Jekyll Island
Wir starten erneut Richtung Norden und wählen die Route der Küste entlang und über Venice nach Bartow. Dort räumen wir unser Gepäck aus dem Flugzeug, geben die geliehenen Rettungswesten ordnungsgemäß zurück und begrüßen Bill.
„Let's do it" – Bill war noch nie auf Jekyll Island, obwohl er selbst eine Piper sein Eigentum nennt. Die geplante Route führt quer durch den Luftraum des Orlando International Airport. Wir erbitten beim Controller direkt über Disney World und dem Magic Kingdom einen Schlenker machen zu dürfen, was anstandlos genehmigt wird, obwohl wir damit relativ eng am Bravo-Luftraum entlang fliegen. Sogar Bill ist verwundert: „That was easy.“
Rund um uns sind dutzende Flugzeuge im Traffic-Display zu sehen. Der Großteil ist natürlich weit über uns, aber es müssen so rund 50 bis 60 Flieger sein, die gleichzeitig über und unter uns herumkurven, davon eine Handvoll VFR-Flieger. Auch hier macht sich Flight Following wieder bezahlt. Der weitere Weg nach Jekyll Island ist unspektakulär, wir kämpfen allerdings mit einem recht starken Headwind. Mit 80 Knoten Groundspeed kriechen wir an St. Augustine vorbei, wo ich im Vorjahr meine Piper Warrior gemietet hatte.
Zehn Meilen vor Jekyll Island setzen wir routinemäßig Blindmeldungen ab und erhalten – wie schon fast üblich auf den zahlreichen kleinen unkontrollierten Plätzen Floridas – keine Antwort. Der Wind ist böig, aber ich setze die Piper halbwegs auf die Pistenmitte. Aus den Augenwinkeln muss ich etwas erstaunt erkennen, dass ein Hund den Grasstreifen neben uns entlangläuft.
Wie wir wenig später festellen, ist der luftfahrtbegeisterte Vierbeiner Bestandteil des normalen Begrüßungskommandos. Als wir aus dem Flieger klettern, hat der sprichwörtliche Flug-Hund bereits ein Reinigungstuch im Maul und läuft uns schwanzwedelnd entgegen. Nur, um dann kehrtzumachen und mit einem Stöckchen im Maul wieder zu kommen. Er will spielen.
Wir parken die Piper ein und gehen zum Büro. Als kostenloses Transportmittel wird uns auch gleich ein Elektro-Auto angeboten, das hier unter dem liebevollen Namen „Red Bug", also „Roter Käfer“, firmiert.
Auf der Insel selbst scheint es, als hätte jemand die Zeit im späten 19. Jahrhundert eingefroren. Einhellige Meinung: Hier müssen die Landschaftsgärtner im Dauereinsatz sein. Auf dem großzügigen Rasen vor dem Prachtbau spielen Gruppen in langer weißer Kleidung Croquet. „Old America“, das alte Amerika versprüht auf Jekyll Island eine Mischung aus großer Tradition und Südstaatencharme.
Verstohlen drücken wir uns mit unseren Shorts und Jeans über eine Treppe nach oben, wo sich die Belegschaft offenbar gerade auf eine große Hochzeit vorbereitet. Geld ist hier, das ist deutlich zu merken, eine lästige Nebensache. Man hat es einfach. Wir werden trotzdem freundlich bedient, essen auf der Terrasse und lassen den Tag Revue passieren. Ein wenig übersehen wir dabei die Zeit, denn als wir zum Flugzeug aufbrechen, ist es schon 17 Uhr und auf uns warten noch zwei Stunden Rückflug.
Die Verspätung erweist sich ausnahmsweise als Glücksfall, denn die letzten zehn Minuten vor Einbruch der Dunkelheit taucht die Abendsonne die Landschaft Floridas in ein atemberaubendes Orange. Wir beobachten abwechselnd den Luftraum und das iPad und schießen Fotos.
In Bartow entscheide ich mich dann dafür, ein großzügiges Final zu fliegen und programmiere als Unterstützung auch noch den verfügbaren GPS-Approach in das Navigationsgerät. Bill zeigt mir, wie man mit dem mehrmaligen Drücken der Mikrofon-Taste die Befeuerung der Landebahn einschaltet und sogar die Helligkeit der Lichter steuern kann. Nach einer Nachtlandung unter dem Motto „hart aber herzlich" rollen wir zurück zum Apron und räumen unsere letzten Sachen aus dem Flugzeug
Etwas wehmütig lege ich den Zündschlüssel zurück zu den Unterlagen und versorge gemeinsam mit Mikko das Flugzeug. Mehr als 16 Stunden hat uns die Piper Arrow N2134T sicher durch den Himmel über Florida und Georgia getragen.
Ich will mich gerade noch einmal umdrehen, als hinter mir Mikko ganz leise „danke, Flugzeug“ flüstert.
Ich verzichte auf meine ansonsten traditionelle Verabschiedung von unserer Piper.
Es ist alles gesagt.
EPILOG
Langsam hebt sich der Airbus A-330 der Air Berlin von der Piste des Miami International Airports. Wir hatten Glück mit den Sitzen und machen es uns gemütlich. Die vergangenen Tage waren, nicht nur fliegerisch, einige der schönsten in meinem Leben. Hunderte Eindrücke. Kleine und große Momente.
Zu fliegen, das kann ich gar nicht oft genug unterstreichen, ist ein Privileg, das Respekt und Demut verlangt.
Auf dem Papier war ich der Pilot in Command auf all diesen unglaublich schönen Flügen über Florida. In Wirklichkeit, und das ist meine tiefe Überzeugung, saßen mit uns all jene im Cockpit, von denen ich in den letzten Jahren so viel lernen durfte – und hoffentlich weiter lernen darf.
Hermann Hesse hat einmal geschrieben, dass jedem Anfang ein Zauber innewohne. Mir geht es so vor jedem Flug.
– Stefan Jäger im Juni 2017