Freche Frischlinge

Die Kinderstube im Uelzener Stadtwald

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / TEXT / FOTOS / VIDEOS

Eng aneinander gekuschelt liegen sie unter dem noch kahlen Baum. Hin und wieder durchläuft ein Zittern das kleinere der beiden Zicklein, und dann schmiegt es sich noch enger an seine Schwester. Erst gestern sind die zwei winzigen braunen Zwergziegen geboren worden, und es ist kaum zu glauben, dass sie auch schon munter durch ihr Gehege des Uelzener Wildgatters springen können. Die meiste Zeit des Tages verschlafen sie allerdings noch. 

Reichlich einen Monat älter sind ihre beiden Artgenossen, die flauschige weiß-braune Tammy und der freche Toni, die aufgeweckt das Gehege erkunden und sich von den zweibeinigen Gästen in ihrem Zuhause kein bisschen einschüchtern lassen. 

Das Wildgatter im Uelzener Stadtwald ist zurzeit eine einzige große Kinderstube, und hier können die Gäste viele Tiere bei der Aufzucht ihrer Jungen beobachten. »Vorsicht bei der Fütterung, die Uhus können dann sehr dicht über Ihren Kopf fliegen«, warnt Valentina Lüning. Die junge Frau absolviert ein freiwilliges ökologisches Jahr im Wildgatter und bereitet sich damit auf ihr Studium der Forst- und Waldwissenschaft vor. Ihren Studienplatz in Göttingen hat die Wustrowerin schon fast sicher, vorerst genießt sie aber die Arbeit mit den Tieren. »Das Schönste ist, dass wir immer draußen sind, die Arbeit ist vielseitig und wir können auch eigene Projekte entwickeln«, sagt sie – und hat schon eine Idee. Gemeinsam mit ihrer Kollegin möchte Valentina das Gehege von Peach umgestalten.

Peach ist die bunte Wildgans, die gleich neben den Uhus wohnt. Aufmerksame Wanderer hatten sie als Jungtier dem Förster übergeben, der sie aufgezogen hat. 

»Eigentlich sollte Peach ausgewildert werden, aber das klappte nicht«, erzählt Valentina. Und tatsächlich hat der Ganter gar keine Scheu vor den Fremden, die ihn mit großen Objektiven ablichten. 

Peach geht auch gerne einmal mit Valentina spazieren und denkt dabei gar nicht ans Ausbüchsen – es sei denn, ein großer Hund kommt vorbei. Dann bringt sich Peach vorsichtshalber in Sicherheit und zeigt ganz nebenbei, dass er tatsächlich fliegen kann. »Es gibt Besucher, die ihre Hunde zum Bellen anregen. Das ist für unsere Tiere immer sehr beängstigend«, ärgert sich Valentina. Zum Glück passiert so etwas nicht allzu oft, denn die meisten Gäste kommen gerne ins Wildgatter – und sie bringen auch Geschenke mit. Füttern ist hier nämlich erlaubt, allerdings nur nach den Vorgaben der Fachleute.

Bei Peach und seiner Mitbewohnerin im Gehege stehen meistens Körner auf dem Speiseplan, aber die junge Fasanendame ist heute trotzdem nicht geneigt, ihr Versteck hinter den Bäumen zu verlassen. Also lassen wir das mit dem Foto und freuen uns über den neugierigen Peach, der mit seinem Schnabel blitzschnell probiert, ob auch die Kamera essbar ist.

Bei den Uhus nebenan besteht die Wohngemeinschaft aus vier Tieren, ein Elternpaar und ihr Nachwuchs. Die beiden Jungen sind schon genau so groß wie die Alten, nur bei der Fütterung halten sie sich erst einmal zurück. »Uhus sind die größten Eulen der Welt, sie werden mehr als 70 Zentimeter groß und können eine Flügelspannweite von 1,80 Meter erreichen«, weiß Valentina.

"Uhus sind die größten Eulen der Welt", weiß Valentina.

Uhus jagen gerne nachts, doch hier in Gefangenschaft sind sie auch tagsüber oft wach. Still verfolgen sie das Geschehen rundum. Ihrem wissenden, geheimnisvollen Blick aus rotgoldenen Augen kann man sich kaum entziehen, es ist, als ob das Tier bis in die Seele blicken könnte. Wer einem Uhu in die Augen geschaut hat, geht nicht unberührt davon. Im Mittelalter hatten die Menschen die rätselhaften Tiere mit Hexen in Verbindung gebracht und gnadenlos gejagt, bis sie fast ausgestorben waren. »Die jungen Uhus sollten auch ausgewildert werden, aber wie bei Peach gelang es den Mitarbeitern des Wildgatters nicht, sie an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen«, erzählt Valentina und steigt über die Doppelleiter zu den Ziegen ein. Der kleine schwarz-weiße Bock versucht sofort, seine Chance zu ergreifen. Er zwängt sich durch die Schwingtür, um das Weite zu suchen, muss dann aber doch den Rückzug antreten. Wobei er es nicht versäumt, uns anklagend auf Futternachschub zu durchsuchen und unsere Jackenknöpfe anzuknabbern.

Wir wollen versuchen, die ganz kleinen Zwergziegen einmal in Aktion zu erleben, aber auch diesmal haben wir kein Glück. Die Winzlinge haben zwar das Quartier gewechselt, schlafen aber schon wieder so fest, dass wir sie nicht stören möchten. Putzmunter ist dagegen die schwarze Ziege mit dem abgebrochenen Horn. Wir taufen sie deshalb Einhorn und wundern uns, dass sie mit ihrem kugelrunden Bauch so flott umherspringt. Scheint so, als ob es demnächst weiteren Nachwuchs bei den Zwergziegen gibt.

Die gestreiften Frischlinge sind schon genauso 
neugierig wie ihre Eltern.

Mit Valentina an der Seite wagen wir uns sogar ins Wildschweingatter und fürchten auch den großen Keiler nicht. Die Frischlinge sind scheinbar ebenfalls nicht besonders ängstlich, obwohl der Keiler bei der Futterausgabe recht herrisch werden kann. Vertreibt er sie rüde von der Futterstelle, wird kurz Platz gemacht – und dann schleicht sich die gestreifte Bande einfach von der anderen Seite an, um einen Rüssel Weizen abzustauben. Hat ein Frischling einen Leckerbissen ergattert, dann heißt es Fersengeld geben. Tatsächlich flitzt ein gestreiftes Knäuel mit seiner Beute von dannen, doch der Raub bleibt nicht lange unbemerkt. Und während im Gehege eine Rangelei angezettelt wird, bleiben auch unsere schon recht in Mitleidenschaft gezogenen Schuhe nicht ungeschoren. Die Borstentiere sind einfach außerordentlich neugierig, und alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird in Augen- und Rüsselschein genommen.

Wildschweine leben in Rotten mit einem ausgeprägten sozialen Gefüge zusammen. Die Bachen bekommen ihren Nachwuchs gleichzeitig. »Das liegt an den Pheromonen«, erklärt Valentina, »Rauschsynchronisation« nennen es die Jäger. So werden die Frischlinge von allen Bachen umsorgt, obwohl die Kleinen durch Rüsselkontakt den Duft ihres Muttertieres genau kennen und es von anderen Bachen unterscheiden. Unterstützt wird die Bindung zudem durch Prägungslaute, die die Bache ein Leben lang beibehält.

Gleich nach der Geburt geht das Gerangel um die besten Futterplätze auch schon los, wobei es hierbei zunächst um die ergiebigste Zitze geht. Denn die zehn Zitzen der Bachen geben von vorn nach hinten mehr Milch. Schnell bildet sich bei den Kleinen eine Rangordnung aus, und der stärkste Frischling bekommt die meiste Milch. Auch werden nicht alle Frischlinge am selben Tag geboren, so dass man sich über unterschiedliche Größen der Kleinen nicht wundern braucht. In den ersten Tagen nach der Geburt liefert das Muttertier eine besondere Milch, die das Immunsystem der Neugeborenen stärkt. Ohne diese sind ihre Überlebenschancen gering.

Drei Rotten Wildschweine leben im Wildgatter – und die vertragen sich nicht. Jede hat ihr eigenes Revier, allerdings in Sichtweite, so dass sich lautstarker Protest von zwei Seiten erhebt, wenn die eine Rotte als Erste ihr Futter erhält. Die Betonung liegt auf laut und stark! Sobald es Futter gibt, geht das Quiecken und Schimpfen abrupt in fast ebenso geräuschvolles Schmatzen über – und wir können uns dem Rotwild zuwenden, das ebenfalls Nachwuchs hat. Doch die Tiere in ihrem weitläufigen Gehege haben beschlossen, im Verborgenen zu bleiben. Nur ein Kaninchen flitzt davon und auch der lockende Mais kann Hirsch und Hirschkühe nicht aus dem schützenden Wald locken. Schade, denn wir hätten Ottokar IV. gerne kennengelernt. Immerhin dürfen wir das beachtliche Geweih seines Vorgängers Ottokar III. bewundern, das am Gehege ausgestellt ist.

Während sich die Rothirsche versteckt halten, sind die Damhirsche weniger schüchtern. 

Das Damwild ist da schon weniger scheu. Zwei Hirsche dominieren das Gehege – und sie heißen beide Harry. »Die Kinder vom Waldkindergarten kommen jeden Dienstag und helfen, die Tiere zu füttern. Sie wissen schon sehr gut, wie sie damit umgehen sollen. Die Kinder geben den Tieren manchmal Namen«, erzählt Valentina. So kommt es, dass der Ganter Peach heißt und die beiden Damhirsche Harry. Mit ihrem kräftigen Geweih schaffen die beiden Harrys Platz an der Futterstelle, und auch wir gehen lieber ein Stück auf Abstand.

Damwild war in unserer Gegend seit dem Ende der letzten Eiszeit ausgestorben und wurde erst vor rund 2000 Jahren von den Römern aus Asien wieder eingeführt. Im Mittelalter wurde es gerne als Gatterwild gehalten und von den Adligen bejagt. Gezielte Aussetzungen und »Gehegeflüchtlinge« führten dazu, dass es wieder frei lebende Bestände gibt. Auch das Uelzener Wildgatter hatte einmal einen Gehegeflüchtling zu beklagen. Der Hirsch hatte sich in den Wald abgesetzt, doch dort wurde es ihm anscheinend zu einsam. Oder er fand die Futtersuche zu anstrengend. »Jedenfalls stand er eines Tages vor dem Zaun und wollte wieder rein«, lacht Valentina. Gefüttert werden die Tiere nur zweimal in der Woche, denn die Besucher geizen nicht mit Essensgaben.

Hirsch Harry liebt Maiskörner.

INFO Wer das Wildgatter im Uelzener Stadtwald besuchen möchte, fährt in Richtung Klinikum bis zum Waldrand. Hier gibt es kostenlose Parkplätze und einen Kinderspielplatz. Das Wildgatter ist jederzeit zugänglich und der Eintritt ist frei.