Nur der Besenstielbaum ist nicht zu finden

Das kleine Arboretum mit der großen Artenvielfalt

Bäume und Blüten im Arboretum Melzingen.

Die Waldrebe begeistert mit ihren großen Blüten.

MARION KORTH / Text 

INKA LYKKA KORTH / Fotos 

Keine Musik, kein Bratwurstgeruch, kein Karussell, dafür Vogelgezwitscher, Rosenduft und Bäume, Bäume, Bäume. Das Arboretum in Melzingen bei Ebstorf ist, was die Besucherzahl angeht, nach dem Museumsdorf Hösseringen die größte Touristenattraktion in der Gegend, um die 10 000 Besucher kommen jedes Jahr, um sich von der besonderen Atmosphäre bezaubern zu lassen, um die Vielfalt der Natur zu bestaunen.

 »Ein wunderschöner Ort«, sagt Dieter Hestermann. Trotzdem hat er sich ein Jahr Bedenkzeit genommen, bevor er sich auf die große Aufgabe, die damit verbunden ist, einzulassen. »Stiftungsvorstand« hört sich gut an, bedeutet vor allem aber viel (ehrenamtliche) Arbeit. Ein halbes Jahr habe er auf dem Dach eines Gebäudes verbracht, um es zu reparieren. »Das gehört eigentlich nicht zu meinen Aufgaben«, sagt Hestermann und lacht. Aber schließlich geht es darum, dass Lebenswerk der Christa von Winning zu bewahren. Das geht hart an die Grenze dessen, was ehrenamtlich zu stemmen ist. Das Kapital der Stiftung ist einzig und allein der Garten, den sie hinterlassen hat. 

An die 800 verschiedene Bäume und Gehölze aus allen Teilen der Erde hat sie über die Jahrzehnte zusammengetragen. Noch zu ihren Lebzeiten war das Arboretum, das kleinste Deutschlands, in eine gemeinnützige Stiftung überführt worden. Rettung in letzter Minute, gab es doch schon Überlegungen, die 17000 Quadratmeter als Bauland zu nutzen. Hestermann und eine kleine, unermüdliche Schar ehrenamtlicher Mitstreiter wachen nun über das Wohl von Blumenhartriegel, Duftesche und Mammutbaum, werben um Unterstützer und Besucher, mähen Rasen, planen Neupflanzungen, betreuen das Kassenhäuschen. Zum Glück gibt es auch immer wieder finanzielle Unterstützung – von Gönnern, der Gemeinde, den 106 Mitgliedern des Fördervereins. »Insgesamt sind wir mit der Entwicklung sehr zufrieden«, sagt Jörg Tilly. Der frühere Schul- und Kulturamtsleiter beim Landkreis Uelzen hatte früher schon beruflich Berührung mit dem Arboretum, jetzt im Ruhestand setzt er sich ehrenamtlich dafür ein. Während andere Touristenziele unter Besucherschwund leiden, konnte sich das kleine Arboretum, obwohl es so gar nicht marktschreierisch ist, auf konstant hohem Niveau behaupten.

Immer ist damit ein kleiner Kampf verbunden, an einer Stelle hat sich der Zaun verabschiedet, ihn zu ersetzen, wurde jedoch erst einmal verschoben. »A, weil uns das Geld fehlt und b, weil uns die Arbeitskräfte fehlen«, sagt Hestermann. Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt, den Mangel zu managen, umso mehr, weil vieles richtig gut läuft. Auch wenn sie nur in Teilzeit beschäftigt werden können, sind die beiden angestellten Gartenmitarbeiterinnen ein echter Segen. Sie sichern die Kontinuität, die es braucht, um einen so großen Garten zu pflegen. Wo sie nicht hinkommen, ist Wildwuchs erlaubt, das war schon zu Christa von Winnings Zeiten so. Und darum gehe es ja schließlich: »Die Seele dieses Gartens«, sagt Hestermann. Zu akkurat darf es einfach nicht sein. Um die Wiese, deren Gras mit Hahnenfuß durchsetzt ist, hat er mit dem Rasentraktor einen Bogen gemacht. »Es blüht gerade so schön.« Kein Wunder, dass sich verliebte Paare genau an diesem romantischen Ort das Ja-Wort geben möchten.

Ein romantischer Treffpunkt für Verliebte. Auf der Wiese im Garten der Bäume finden auch Trauungen statt.

Das Arboretum ist ein kleines Wunderland, das in lehmigem Sand wurzelt, das immer schon Licht, Wasser, Liebe und Tatkraft zum Wachsen brauchte. Das Haar zurückgekämmt, ein Gesicht, das einen wachen Geist und Willensstärke ausdrückt, so schaut sie noch heute in ihren Garten. Die Büste im Eingangsbereich beim Café erinnert an diese Frau, die kantig und sperrig war, nicht bei allen beliebt, deren Schaffenskraft jedoch uneingeschränkten Respekt, ja Bewunderung verdient. Im Juli 2012 ist Christa von Winning im Alter von 100 Jahren gestorben.

Geschenkt worden ist ihr nichts. »Sie hat sich durchgebissen«, sagt Tilly. Schon als junge Frau, als die Tochter eines Arztes sich gegen ihren Vater durchsetzte und auf eine Ausbildung als Gärtnerin bestand. 1933 heiratete sie Heidolf von Winning, zog vier Kinder – alles Mädchen – groß. Der Krieg zerstörte auch ihr Leben, die bis dahin in Bad Saarow am Scharmützelsee gewohnt hatte. Zum Kriegsende, 1945, blieb der Familie nur die Flucht vor den heranrückenden Russen. Christa von Winning, ihr im Krieg verletzter Mann und die vier kleinen Mädchen machten sich in Begleitung der beiden Hunde auf den Weg nach Westen. Im Rucksack hatte Christa von Winning einen Kirschapfel dabei. Als sie ihn in Melzingen angekommen pflanzte, markierte sie damit auch symbolisch den Neuanfang. Alle Last ruhte auf ihren Schultern. Hilfe von ihrem Mann konnte sie nicht erwarten, er war Offizier gewesen. »Sehr charmant, ein wundervoller Tänzer, aber die Arbeit war nicht für ihn gemacht«, sagt Tilly. Christa von Winning besann sich auf das, was sie gelernt hatte: baute Obst und Gemüse an, um es auf dem Markt zu verkaufen und damit ihre Familie zu ernähren. 

Immer neue Flächen pachtete sie hinzu und bewirtschaftete sie. Anfangs zog ein Esel den Karren zum Markt, später ein Pony und dann ein Auto. Ihre Pflanzensammlung wuchs und wuchs. Von überall her ließ sie sich Samen schicken, unternahm an die 70 Gartenreisen. Sie habe das Talent gehabt, dass alles, was sie pflanzte, auch anwuchs. »Man sagte, wenn sie einen Besenstiel in die Erde steckt, dann schlägt der aus«, erzählt Tilly. Gut, den »Besenstielbaum« haben wir auf unserem Rundgang nicht gesehen, aber so fremde Pflanzengeschöpfe wie den Borstigen Flügelstorax, die Fadenzypresse, die Amerikanische Gleditschie, Schicksalsbaum, Elegante Ulme oder auch den Riesigen Blasenbaum.

»Ja, wir haben hier so manche Schätze«, sagt Hestermann. Vom Taschentuchbaum wachsen seines Wissens nach nur drei oder vier Exemplare in Deutschland, einer davon in Melzingen.

Am beeindruckendsten aber ist wohl der Mammutbaum. Mit seinen 60 Jahren ist er eigentlich noch ein Säugling, schließlich können Exemplare seiner Art 2500 Jahre alt werden, doch schon jetzt braucht es mindestens fünf Mann, um seinen Stamm zu umfassen. In diesem Baum zeigt sich sinnbildhaft, was aus einem kleinen Samenkorn entstehen kann.

Das Arboretum mit seiner Geschichte ist Zeitzeugnis und Wunderland in einem. Ja, wir können Dieter Hestermann nur zu gut verstehen, wenn er sagt: »Ich gehe hier durch und genieße die Ruhe und die Vögel. Es macht Spaß, sich hierfür zu engagieren.«

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. In meinem Notizbuch raschelt es. Fast hätte ich es vergessen: Dieter Hestermann und Jörg Tilly haben mir ein Stück Rinde der Papierbirke mitgegeben, als kleine Erinnerung und Gedankenstütze für diese Zeilen. 

INFO www.arboretum-melzingen.de

Die Papierbirke.
Die Papierbirke scheint sich ständig zu "häuten" und dabei "Papier" abzuwerfen. 
Wie ein kleiner Wald zwischen Wiesen und Kornfeldern: der Garten der Bäume aus der Ferne.