Die Geschichte eines Dorfladens

Baracke und Baudenkmal in Böddenstedt

Kaum mehr als eine alte Baracke in der Ortsmitte von Böddenstedt – und doch ein erhaltenswertes Baudenkmal, das vom Aufstieg und Niedergang des ländlichen Einzelhandels in der Nachkriegszeit erzählt.

CHRISTINE KOHNKE LÖBERT UND DR. HORST LÖBERT / Text / Fotos 

Als wir uns vor gut zwei Jahren dazu entschlossen, in unserem Heimatort Böddenstedt ein Grundstück mit altem Fachwerkhaus, Nebengebäuden und mit dem ehemaligen Dorfladen des Ortes – eigentlich nicht viel mehr als eine leichtgebaute, lang gezogene Baracke – zu erwerben, ahnten wir nicht, was auf uns zukommen würde. Im Grunde genommen ist das ja immer so, wenn man etwas Neues beginnt – und das ist auch gut so, denn ansonsten würden wir uns vermutlich ganz viele Dinge gar nicht erst trauen. Wir haben uns jedenfalls getraut und damit begonnen, das historische Fachwerkhaus zu renovieren und die Nebengebäude zu sichern. Gleichzeitig haben wir uns mit der Geschichte des Grundstückes vertraut gemacht und waren überrascht, wieviel wir dadurch auch über die Ortsgeschichte Böddenstedts erfahren würden. Von Beginn an waren wir entschlossen, wenn irgend möglich, auch den alten Dorfladen als wichtiges Zeugnis der Böddenstedter Geschichte zu erhalten. Dank der guten Unterstützung durch Mitarbeiter der Denkmalbehörden vom Landkreis und des Landes Niedersachsen – das gesamte Grundstück steht unter Denkmalschutz – und unserer Baufirma vor Ort konnten mittlerweile erste Sicherungsmaßnahmen an der Außenhaut und der Dachdeckung des alten Ladens vorgenommen werden. Zudem ist es uns gelungen, mit der Baugeschichte auch ein Stück deutscher Nachkriegszeit, die Schicksale einzelner Flüchtlinge und einen Ausschnitt des ländlichen Einzelhandels für unseren Ort lebendig werden zu lassen.

Zwei Ladeneingänge: Links der Eingang des Spar-Ladens, für den 1959 ein Bauantrag eingereicht worden ist. Rechts daneben der Laden von Wilhelm Buls, welcher 1956 errichtet wurde und schnell zu klein wurde.

Das Dorf wächst 

Böddenstedt hatte im Jahr 1937 lediglich 410 Einwohner, es war also ein eher kleines Heidedorf. Durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges kamen Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene und fanden hier Zuflucht. Im Jahre 1950 hatte Böddenstedt 884 Einwohner, die Zahl hatte sich innerhalb von 13 Jahren mehr als verdoppelt! 2001 zählte Böddenstedt allerdings nur noch 579 Einwohner.

Um die Unterbringung und Integration der geflüchteten Menschen kümmerte sich damals Wilhelm Lindloff, der von 1948 bis 1968 Bürgermeister von Böddenstedt war (die selbstständige Gemeinde bestand bis 1972). Er verpachtete den Hofplatz Böddenstedt Nr. 20 an mehrere Parteien von Zugezogenen. In das alte Bauernhaus zogen mehrere Mietparteien ein: In der Scheune richtete sich Schlossermeister Kurt Müller 1949 eine Werkstatt ein, den Treppenspeicher baute sich Frisörmeister Fritz Lasch ebenfalls 1949 zu Wohnraum aus. Er hatte nur 17 Quadratmeter Platz! Genau so klein war der Damen- und Herrensalon, den er im Treppenspeicher eröffnete.

An der Durchfahrtsstraße, heute Am Dorfkrug 6, entstand in fünf Bauabschnitten zwischen 1951 und 1965 eine langgestreckte Baracke, der spätere Böddenstedter Spar-Laden. Dieser Laden bestand noch bis zum Jahr 2000, seither stand das Gebäude leer. Alte Werbeschilder erinnerten noch lange daran, dass Böddenstedt früher diesen Dorfladen hatte, und es gab viele Jahre sogar gleichzeitig zwei weitere Läden im Ort. 2016 wurde die Baracke als Baudenkmal der Nachkriegszeit unter Denkmalschutz gestellt. Wir hatten dies betrieben, um die Bedeutung auch einer scheinbar wenig wertvollen und vergänglichen Bausubstanz für die Ortsgeschichte zu unterstreichen. Der Sparladen ist noch heute für viele Böddenstedter ein Ort mit jeder Menge Erinnerungen. Anhand der Bauakten des Landkreises Uelzen kann seine Baugeschichte nachvollzogen werden.

1. Bauabschnitt 

Im Jahr 1951 erbaut Otto Koch, deutscher Flüchtling aus dem Baltikum, einen ersten Behelfsbau, eine Baracke mit Pultdach von 16 Quadratmetern Grundfläche. Hier richtet er einen kleinen Laden ein. Im Uelzener Adressbuch macht er Werbung für Obst, Gemüse, Delikatessen und Rauchwaren. Im Dorf wird erzählt, dass er aus dem Fenster heraus verkaufte, vor allem Heringe und saure Gurken.

2. Bauabschnitt 

Zwei Jahre später übernimmt Wilhelm Buls das Geschäft und errichtet neben dem ersten einen zweiten Behelfsbau, eine etwa gleich große hölzerne Verkaufshalle, die er gebraucht in Suderburg erworben hatte. Die Baugenehmigung dieses zweiten Behelfsbaues wird befristet bis zum November 1956.

3. Bauabschnitt 

Bereits drei Jahre später ist die die Verkaufshalle zu klein geworden und Wilhelm Buls beantragt 1956 den Anbau eines Verkaufsladens in Holzbauweise und Teerpappdach mit 34 Quadratmetern Grundfläche. Im Bauantrag von 1956 sind auch die beiden Behelfsbauten dargestellt, sie möchte Wilhelm Buls künftig als Lager nutzen.

Wilhelm Buls stammt aus Wolhynien, einem ehemaligen Grenzland zwischen Ost- und Westeuropa, das etwas größer ist als Bayern. Einst unter polnischer Herrschaft, war es seit 1795 ein Gouvernement des alten Rußlands. Seit dem 13. Jahrhundert wanderten deutsche Handwerker, Kaufleute und Ärzte nach Wolhynien aus. Auch in der Zeit unter polnischer Regierung wurden dort deutsche Bauernsiedlungen angelegt. Im Jahre 1762 ermutigte ein Erlass der Zarin Katharina II. eine große Anzahl deutscher Bauern und Handwerker zur Auswanderung in die westukrainische Region Wolhyniens. Der Sohn von Wilhelm Buls, Armin Buls, der heute in Altenebstorf bei Uelzen lebt, stellte uns den Lebenslauf seines Vaters zur Verfügung. Dieser schreibt:

Ich wurde am 9. Februar 1906 in Sofiowka im Kreis Horochow in Wolhynien geboren. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wurden alle 1915 deportiert. Da aber die Front aus dem Westen ziemlich schnell voran kam, wurden wir von der Österreichischen Front überrollt. Wo wir dann einen Winter 1915/16 bis Pfingst-Sonnabend unter Österreichischer Besatzung standen, als dann die Front wieder zurück nach dem Westen gedrängt wurde, flüchteten wir nach dem Westen. Im Herbst kamen wir nach vielen Quarantäne-Lagern in Königsberg in Ostpreußen an. Dort gab es einen Verein für deutsche Rückwanderer und man konnte zu jeglicher Arbeit vermittelt werden. Da wir vom Lande waren, ließ sich mein Vater auf ein Gut als Gespannführer vermitteln. Im Frühjahr 1919 sollten meine Eltern wieder zurück nach Wolhynien. An der Grenze sagte man uns, im inneren Gebiet gebe es noch Kämpfe (inzwischen war die Revolution 1918 ausgebrochen). Als wir dann nirgends über die Grenze gelassen wurden, fuhren wir alle nach Westpreußen hoch, wo mein Vater durch die Vermittlung seiner Cousine eine Stelle in der Nähe von Thorn bekam, der Ort hieß Neuhof. Als dann zum Herbst die Verhältnisse sich zu unseren Gunsten veränderten, fuhren meine Eltern wieder Richtung Heimat, wo wir dann nach vier Wochen Bahnfahrt in der alten Heimat ankamen. Von unserem Anwesen kein Baum, kein Strauch, wo man hinsah, nur Schützengräben im Zickzack, zwei Meter tief, das war alles. Unsere erste Anschaffung im Frühjahr 1920 war ein altes, blindes, buntes Pferd. Damit begann dann im Frühjahr die erste Bestellung des Ackers. Das war 1920. Als nach 20-jähriger mühsamer Aufbauarbeit am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, der mit Polen nur 18 Tage dauerte. Da Russland mit Deutschland einen Nichtangriffspakt hatte, blieben erstmals alle Deutschen unberührt, jedoch gleich nach dem Polenfeldzug hatte Deutschland mit den Russen ein Abkommen getroffen, dass sämtliche Deutschen aus Russland ausgesiedelt würden. Und schon im Januar 1940 begann der große Treck mit Pferd und Wagen bei 20 Grad Kälte Richtung Heim ins Reich. Frauen und Kinder fuhren mit der Bahn. Ich war aber schon drei Wochen vorher legal mit Handgepäck zu meinen Schwiegereltern nach Dt. Krone bei Schneidemühl (Eckartsberga) ausgewandert, so dass wir den großen Treck nicht mitmachen brauchten. Da es uns bei den Schwiegereltern nicht zusagte, beschlossen wir schon im März 1940 nach dem ehemalig polnisch besetzten Gebiet, und zwar in ein Dorf zwölf Kilometer von Hohensalza, umzusiedeln, wo wir dann eine von den Polen verlassene Gastwirtschaft mit Kolonialwaren und 24 Morgen Acker übernahmen. Am 6. 1. 1941 wurde ich zur Wehrmacht eingezogen, wo dann meine Frau mit zwei schulpflichtigen Kindern den Laden allein machen musste. Am 20. 1. 1945 begann dann der 2. Treck und das wieder bei 20 Grad Kälte, aber schon als Flucht vor den Russen. Da Hitler im Juni 41 den Angriffspakt mit Russland gebrochen hatte und Russland überfiel, ging es jetzt fluchtartig noch weiter heim ins Reich und zwar bis Uelzen, wo dann meine Frau in Molzen untergebracht wurde. Als ich dann im April 46 in Amerikanische Gefangenschaft kam, fand ich gleich in der Möbelfabrik Klasen in Klein Süstedt Arbeit, wo ich dann auch pensioniert wurde. Von Holxen (die Familie war umgezogen) hatten wir in 1953 in Böddenstedt einen kleinen Lebensmittelladen von einem Baltendeutschen (auch Flüchtling) übernommen, den wir bis 1959 dort führten. Als dann es sich durch Vermittlung eines Vertreters ergab, kauften wir in Linden ein Haus mit Lebensmittelladen von Herrn Brinkmann, der auch von Anfang gut ging. Jedoch als dann die Superläden sich immer mehr ausbreiteten, waren wir gezwungen, unseren Tante-Emma-Laden zu schließen und eine Kneipe mit Speiselokal daraus zu machen. Da aber schon so eine gleiches Ding am Ort war, ging es auch nur mit halber Kraft. Da waren wir gezwungen, uns nach etwas anderem umzusehen, was sich dann auch ergab: hier in Ebstorf das Grundstück von Herrn Nickel zu erwerben und es zu einer kleinen Pension umzubauen, die wie es scheint, sich bis jetzt auch so einigermaßen rentabel zu gestalten scheint.

Diesen Lebenslauf hat Wilhelm Buls, der 1989 verstorben ist, im Jahr 1980 aufgeschrieben.

4. Bauabschnitt 

Wilhelm Buls erwarb 1959 ein Haus mit Laden in Linden, ebenfalls im Landkreis Uelzen, und zog dorthin. Daraufhin beantragt der Grundbesitzer Wilhelm Lindloff im Jahr 1959 den Anbau eines gewerblich genutzten Raumes als Verkaufsladen und errichtet links an dem von Buls 1956 erbauten Laden einen neuen mit 60 Quadratmetern anstelle der beiden Behelfsbauten von 1951 und 1953.

In der Familie von Georg Grünwald findet er neue Pächter, die den Spar-Laden bis 1993 betreiben. Grünwalds richten ihre Wohnung im alten Laden von 1956 ein. 

5. Bauabschnitt 

Vor der Geburt der zweiten Tochter erweitern Grünwalds die Baracke 1965/66 bis an die Grundstücksgrenze nach Norden, damit kommen zwei weitere Wohnräume und ein Badezimmer hinzu. Ein Badezimmer mit WC und Badewanne ist zu dieser Zeit in – auch auf den großen Bauernhöfen wird erst jetzt das Plumpsklo am Schweinestall überflüssig.

Bemerkenswert ist die Dynamik des Ladens in den 1950er Jahren: 

1951 16 Quadratmeter 

1953 + 17 Quadratmeter 

1956 + 34 Quadratmeter 

1959 + 60 Quadratmeter 

Gleichzeitig gab es in Böddenstedt noch den Laden Drögemüller, der von 1853 bis 1981 bestand, und den Laden von »Höker-Cohrs«.

Von 1993 bis 1999 führte Ilona Wilhelms den Sparladen weiter, der – zuletzt als Gutkauf – im Jahr 2000 aufgegeben wurde. Seither stand das Gebäude leer. Im Rahmen des Dorfwettbewerbs »Unser Dorf hat Zukunft« präsentierten sich die Böddenstedter mit ihren Hobbyprodukten und der Posaunenchor im Laden und wir ließen die Fassade neu streichen. Schon sah alles viel freundlicher aus. 

Dank eines Zuschusses der Denkmalbehörden wurde nun die Grundsicherung ermöglicht. Den Rest der Arbeiten wollen wir in Eigenleistung bewältigen. In das Haupthaus sind unsere Kinder eingezogen, die auch den alten Schweinestall und die ehemalige Schlosserwerkstatt nutzen. Wie es mit dem Laden und dem Fachwerkspeicher weitergeht, wissen wir noch nicht so genau. Erste Ideen haben wir aber schon im Kopf. Und wenn wir uns den Lebenslauf von Wilhelm Buls vor Augen halten, der in seinem Leben so oft neu anfangen musste und immer eine Idee hatte, die er dann auch umsetzte, dann kann es ja nicht so schwierig werden. Jedenfalls ist erst einmal alles unter Dach und Fach und bleibt erhalten.

So zeigt sich der alte Dorfladen heute. Ideen für die künftig Nutzung gibt es schon, sie müssen jetzt nur noch umgesetzt werden.