Nur Flecktarn in Faßberg? Von wegen!

Farbstark: die neuen Arbeiten der Malerin Anna Jander

Seit fast 20 Jahren lebt die Malerin Anna Jander nun schon in der Nähe von Celle. Jetzt zeigt sie erstmals ihre Bilder in der Residenzstadt. Der Kunstverein Celle würdigt sie mit einer großen Werkschau. Wir haben die Künstlerin vorab in ihrem Atelierhaus in jenem Ort besucht, in dem sonst das Militär das Farbspektrum vorgibt.

INKA LYKKA KORTH / Text und Fotos

Ein trüber Montagvormittag. Dunkle Regenwolken hängen über dem Ort. Die Straße ist noch nass vom letzten Regenschauer. Auf dem Platz hinter dem Rathaus stehen Soldaten in Reih und Glied, den Blick starr geradeaus gerichtet. Eine Kapelle spielt. Vielleicht ein feierliches Gelöbnis?

Die Musik ist auch im Marktweg noch zu hören. Der Parkstreifen in Betongrau erstreckt sich über die gesamte Breite der Michaelkirche in rotbraunem Back- stein. Die Grünfläche davor ist jetzt braun, vertrocknet im Dürresommer 2018, und braun ist auch die Geschichte des Gotteshauses: Laut Wikipedia handelt es sich vermutlich um die einzige Kirche, deren Bau in der nationalsozialistischen Zeit vom Staat in Auftrag gegeben und finanziert worden ist. Unlängst machte sie Schlagzeilen wegen des Streits um die Hakenkreuzglocke im Dachreiter, deren Entfernung schon beschlossen war, als sich in der Gemeinde Widerstand regte und Unterschriften gesammelt wurden. »What a shame! 1500 Faßberger unterschrieben für eine Hakenkreuzglocke« war daraufhin als stummer Protest in großen, roten Lettern auf einer weiß gekalkten Schaufensterscheibe gegenüber der Kirche zu lesen.

Die Schaufensterscheibe, nun wieder unbeschriftet, befindet sich in einer Ladenzeile, die einst das Zentrum von Faßberg bildete, jenem in den 1930er Jahren zusammen mit dem Militärflugplatz aus dem Heideboden gestampften Ort, der durch die legendären Rosinen- bomber, die während der Berlin-Blockade 1948/49 die West-Berliner über die Luftbrücke mit allem Lebensnotwendigen versorgten, berühmt wurde. Ganz links in der Ladenzeile lockt eine zu dieser Ta- geszeit noch unbeleuchtete Cocktail- und Shisha-Bar, nebenan behindert das gekalkte Schaufenster den Einblick, und rechts daneben schleppt gerade eine Soldatin in Flecktarn-Feldanzug ein übergroßes Amazon-Paket aus der letzten Bastion des Einzelhandels, einer Art Geschenkelädchen mit Postfiliale, und bekommt es gerade so im Kofferraum ihres Kleinwagens verstaut. Die anderen Ladenlokale stehen anscheinend schon seit längerem leer. Ein alter Mann schiebt sein Fahrrad über die Straße, und ein weiterer Soldat eilt mit Päckchen herbei. Sonst ist nicht viel los an diesem Vormittag. Die Post hat ab 12 Uhr drei Stunden Mittagspause, und dann wird es ganz ruhig im Marktweg. Die Atmosphäre ist irgendwie speziell, hat etwas Morbides, und nach all den dunklen Tönen da draußen, nach all dem Grau und Braun und Flecktarn, sehnt man sich nach hellen, frischen Farben, und die gibt es reichlich, gleich hinter der gekalkten Scheibe. In mehr als 20 Variationen stehen sie da, in flüssiger Form in alten Marmeladengläsern, Joghurt-Eimerchen und Plastikbecherchen auf einem Tisch. Tempera, angemischt aus Pulver und gebunden mit einer Wasser-Öl-Emulsion.

Anna Jander rührt Tempera-Farben an.

Und ebenso kräftig wie in den Gefäßen leuchtet es auf dem Fußboden. Dort verreibt Anna Jander gerade mit grobem Werkzeug, einer Art Schrubber, frisch auf Segel- tuch aufgetragenes Gelb. Wäre das Bild eine Tischplatte, dann hätten locker acht bis zehn Personen daran Platz.

Große  Formate erfordern große Malwerkzeuge.

Große Formate, kräftige Farben und eine intuitive Malweise – Anna Jander, die einst mit feinem Pinselstrich so detailverliebte Bilder wie die zauberhaften Illustrationen in Klaus Jordans Kinderbuch »Wir Heidschnucken vom Sothriethof« schuf, für mehr als ein Dutzend Zeichentrickfilme Landschaften und urbane Räume malte und in der Tradition des amerikanischen Realismus eines Edward Hoppers in Kalifornien und der dahinsiechenden Autostadt Detroit die Lebensräume des modernen Menschen sezierte, hat sich in ihren aktuellen Werken eine neue, mutige Herangehensweise zu eigen gemacht: Nicht das Ergebnis, wie beim gegenständlichen Malen, sondern der Malprozess steht jetzt im Vordergrund. Die Reduktion auf Farben und Proportionen und die Konzentration auf den Pinselstrich, das hat für sie durchaus etwas Meditatives. Wenn sie, wie in mehreren Bildern der aktuellen Serie »Suzhou«, hochkonzentriert mit der dünnflüssigen, leicht verlaufenden Farbe in einem Zug einen waagerechten Pinselstrich über eine Breite von fast zwei Metern zieht, gibt es zwei Möglichkeiten: »Entweder sitzt der Strich oder das ganze Bild ist im Arsch«.

"Das Abstrakte eröffnet mir neue Entwicklungsmöglichkeiten"
In einer ehemaligen Autowerk- statt hinter ihrem Atelierhaus in Faßberg hat Anna Jander ihre neuen Bilder zum Trocknen aufgehängt und arbeitet nun an der Konzeption der Blow-Up-Ausstellung im Schloss Celle.

»Das Abstrakte eröffnet mir neue Entwicklungsmöglichkeiten«, sagt Anna Jander und nennt ein Beispiel: Dreidimensionalität müsse nicht unbedingt über die Perspektive entstehen, sondern sie lasse sich auch über die Farbe erreichen und, wie aus der Fotografie bekannt, durch das Spiel mit Schärfe und Unschärfe, mit weichen und harten Kanten.

Die großformatigen Bilder wollen aus einigem Abstand betrachtet werden, und es lohnt sich, vor ihnen etwas länger zu verweilen, denn es gibt vieles zu entdecken, was sich auf den flüchtigen Blick nicht erschließt. Jeder Betrachter wird in den Bilder etwas Anderes sehen, und das ist ja das Spannende.

Man muss die Geschichte zu den Bildern nicht kennen, da sie die Phantasie unweigerlich in eine bestimmte Richtung lenkt, aber interessant ist sie dennoch: Anna Jander war wieder einmal für ein Trickfilmprojekt (»Der kleine Rabe Socke 2«) gebucht und hielt sich deshalb für einige Zeit in der westlich von Shanghai gelegenen Stadt Suzhou auf. Die Produktionsfirma schickte ihr jeden Tag einen Fahrer, der sie mit dem Auto zur Arbeit abholte. Vom Beifahrersitz aus filmte sie im Vorbeifahren den quirligen Alltag in den Straßen der Stadt. Als sie sich, schon lange wieder zurück in der Südheide, die Videoclips anschaute und dabei immer wieder mit der Maus die Pausentaste drückte, kam ihr die Idee für ein neues Projekt. Durch die in den Standbildern »eingefrorene« Bewegungsunschärfe verschwimmen die Formen, und die Farben traten in den Vordergrund. So geht von diesen »verwischten«, flüchtigen Momentaufnahmen einer urbanen Lebens- und Arbeitswelt eine Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann.

Anna Jander druckte ganze Serien dieser Standbilder aus und begann, sie durch Übermalen zu bearbeiten. Die dabei entstandenen kleinformatigen Serien dienten ihr als Inspirationsquelle für einen Bilderzyklus mit dem Titel »Blow Up«. 

Der Titel ist nicht als Reminiszenz an den gleichnamigen Kultfilm von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966 gedacht. Gleichwohl bezieht er sich, wie der Filmtitel, auf den Prozess des Vergrößerns. Beim Vergrößern verschwimmen die Details, Kanten werden unscharf und Flächen lösen sich in einzelne Punkte auf. In der Fotografie ist das ein unerwünschter Effekt, da er mit Qualitätseinbußen verbunden ist. Er kann jedoch auch als künstlerisches Stilmittel eingesetzt werden, um so eine gewisse Abstrahierung zu erreichen. Indem sie auf großformatigen Segeltuch fiktive Ausschnittsvergrößerungen im Stil der Standbilder aus ihren Videoclips malt, gelingt es Anna Jander, dieses Blow-Up-Prinzip von der Fotografie auf die Malerei zu übertragen. Blow up bedeutet aber nicht nur vergrößern, sondern auch zur Explosion bringen, und tatsächlich haben die Bilder durch die starke Farbigkeit und impulsive Pinselführung etwas Eruptives.

Die kleinformatigen Prints werden durch Übermalen bearbeitet und dienen als Vorlage für frei gemalte, fiktive Ausschnittsvergrößerungen in verschiedenen Formaten.

Der Kunstverein Celle, der Bilder aus dem Blow-Up- Zyklus vom 7. Oktober bis 25. November in der Gotischen Halle des Celler Schlosses zeigt, schreibt in seiner Einladung: »In Janders neuem Werkzyklus ist der Betrachter ganz nah dran an der Malerei und der Welt, die sich hier öffnet. Erlebtes und Gesehenes – stets urbane Landschaften – bilden das Ausgangsmaterial. Die chinesische Metropole Suzhou dient dabei mehr zufällig als Schablone für die aus ihrem Inneren herausströmen- den, impulsgeladenen Malaktionen. Diese Malerei ist pur, radikal und von konsequenter Subjektivität.« Zeitgleich sind in der Galerie Dr. Jochim im Haesler- Haus Bilder aus Anna Janders Wasteland-Zyklus zu sehen, die sich von den farbstarken Blow-Up-Bildern vor allem durch die Ton-in-Ton-Malerei in dunklen, erdigen Farben und Grau- und Schwarztönen unterscheiden. Wasteland bedeutet Ödland oder Einöde, und diese fand Anna Jander vor allem in den Straßen von Detroit, einer Stadt, die infolge des Niedergangs der Automobilindustrie von einst zwei Millionen Einwohnern auf fast ein Drittel geschrumpft ist – ein Schicksal, vor dem auch Wolfsburg und andere Industriestädte hierzulande nicht gefeit sind. Aus der Perspektive der distanzierten Beobachterin, die keine Wertung vornimmt, zeigt sie leere Straßen, verlassene Häuser, verwüstete Fabrikhallen. Aber eigentlich geht es ihr um die, die in den Bildern nicht wirklich vorkommen: die Menschen. Das Beispiel Detroit zeigt eindringlich, wie anfällig ein Gesellschaftssystem ist, das auf dem Streben nach Wachs- tum und materiellem Wohlstand basiert. Dann stellt sich die Sicherheit und Stabilität der bestehenden Ordnung ganz schnell als trügerisch heraus.

Detroit könnte überall sein.
Wasteland 2015, Tempera auf Segeltuch, 190 x 250 cm

Detroit könnte überall sein, »und das hier ist mein Little Detroit«, sagt Anna Jander über das einstige Zentrum von Faßberg. Dass sie nicht in einer »Künstler- blase« auf dem Kreuzberger Kiez lebe und arbeite, sondern sich bewusst für Faßberg entschieden und ihr gesamtes Geld in die morbide Ladenzeile gesteckt hat, will sie auch als Bekenntnis zur Provinz im Allgemeinen und zu Faßberg und den dort lebenden Menschen verstanden wissen. 1967 in Lüneburg geboren, studierte sie freie Malerei und Grafik in Braunschweig, war Meisterschülerin bei Professor Lienhard von Monkiewitsch, ging dann nach Berlin, eröffnete dort mit anderen Künstlern ein Atelierhaus und war als Tutorin für Hintergrundmalerei an verschiedenen Filmhochschulen tätig, bevor sie 1999 in die Heide zurückkehrte und zusammen mit dem Autor Klaus Jordan ein altes Landarbeiterhaus in Niederohe bezog. Fast 20 Jahre lebt sie nun schon dort – mit Unterbrechungen durch zahlreiche Arbeitsaufenhalte im Ausland. 2013 erhielt sie den Kunstpreis des Lüneburgischen Landschaftsverbandes. Der animierte Dokumentarfilm »Chris the Swiss«, an dem Anna Jander mitgewirkt hat, schaffte es sogar nach Cannes, wurde dort im Mai dieses Jahres im Rahmen der 71. Internationalen Filmfestspiele gezeigt.

Als die Gemeinde Faßberg beschloss, das alte Schulhaus in Niederohe, das viele Jahre als Atelier gedient hatte, zu verkaufen, stand Anna Jander vor der Frage nach dem Wohin. Weggehen oder bleiben? Sie blieb. Ihre Verbundenheit zu Faßberg und der Gegend drumherum zeigt sich auch dadurch, dass sie sich immer wieder einmischt, wenn ihrer Meinung nach Unrecht geschieht. Sie hat sich im Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit engagiert, und empfindet es als Bereicherung, dass die Gesellschaft auch im ländlichen Raum bunter wird. Selbstverständlich hat sie sich auch im Streit um die Hakenkreuzglocke zu Wort gemeldet: »It's a Shame!« (siehe oben). Ihr gekalktes Schaufenster will sie auch künftig als Sprachrohr nutzen, allerdings nicht nur in politischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht. Mit Videoprojektionen auf die weiße Glasfläche hat sie schon experimentiert. Auch einen Tag der offenen Tür hat es im 2017 eröffneten Atelierhaus schon gegeben. Mit den Leuten draußen ins Gespräch zu kommen, das ist ihr wichtig.

Von Niederohe aus fährt Anna Jander am liebsten mit dem Fahrrad nach Faßberg. Wenn es mal später wird am Abend, kann sie aber in ihrem Atelierhaus übernachten. Eine schmale, steile Stiege führt vom Badezimmer hinauf unters Dach, wo sie zwischen den Dachschrägen ein kleines Schlafzimmer eingerichtet hat. Auch wenn das Atelierhaus auf drei Ebenen reichlich Platz bietet, musste Anna Jander zusätzlich noch Lagerraum für die großformatigen, bis zu drei Meter breiten Bilder anmieten. Außerdem kann sie vorübergehend die leerstehende Autowerkstatt im Hinterhof nutzen, um dort neue Bilder aufzuhängen, bis die Farben getrocknet sind.

Zum Abschied zeigt sich sogar die Sonne am Himmel, und draußen sieht es gar nicht mehr so grau und braun aus wie bei der Ankunft vor zweieinhalb Stunden. Auch Flecktarn ist jetzt nicht mehr auf der Straße zu sehen. Die Post hat noch geschlossen. Doch dann unterbricht Zweitaktknattern die Mittagsruhe. Ein weißer Motorroller hält auf dem Parkstreifen. Klaus Jordan, der wieder an einem neuen Buch arbeitet, schaut kurz aus Niederohe vorbei, um Guten Tag zu sagen.

DIE AUSSTELLUNGEN 

Anna Jander: Blow Up 

Der Kunstverein Celle zeigt die Bilder aus dem Blow-­Up­-Zyklus vom 7. Oktober bis 25. November 2018 in der Gotischen Halle im Schloss Celle, Schloßplatz 1. Die Ausstellung wird am Sonntag, 7. Oktober um 11:30 Uhr eröffnet. 

Am Sonntag, 4. November 2018, findet von 11:30 Uhr an eine Matinée mit dem Titel »Echoes« in der Gotischen Halle statt. Ju­liane Baucke, Solohornistin am Staatsorchester in Darmstadt, be­spielt mit dem Alphorn einzelne Bilder und lässt freie Improvisationen entstehen. 

Im Rahmen der Finissage am Sonntag, 25. November 2018, tau­ schen sich von 11:30 Uhr an Giso Westing und Anna Jander über deren neue Werke aus. 

Anna Jander: Wasteland 

Zeitgleich zur »Blow Up«­-Ausstellung im Schloss werden in der Galerie Dr. Jochim im Haesler­Haus am Französischen Garten, Magnusstraße 5, Bilder aus dem »Wasteland«­Zyklus gezeigt (Aus­stellungseröffnung am Sonntag, 7. Oktober, um 13 Uhr). Am Sonnabend, 20. Oktober, findet dort ein Künstlerinnengespräch statt. Anna Jander und Kerstin Niemann tauschen sich von 17 Uhr an über »Wasteland«, Detroit und aktuelles Kunstschaffen aus.

INFO anna-jander.com