Wohngemeinschaft mit Stacheltieren

Maria Kellner hilft Igeln über den Winter – Auffangstation geplant

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos / Video

Voluminöse Pappkartons füllen das Wohnzimmer von Maria Kellner. Sie stehen neben Tisch und Sofa und vor dem Computer-Arbeitsplatz und lassen den Weg zum Fenster zum Hindernisparcours werden. Aber nein, die Frau mit den blonden Wuschelhaaren steckt nicht mitten im Umzug. Im Gegenteil, bei ihr sind Untermieter eingezogen.

Maria Kellner mit einem ihrer stacheligen Schützlinge 

Jeder einzelne der großen Kartons beherbergt ein kleines Appartement mit kuscheligem Schlafzimmer, Essecke und natürlich einem stillen Örtchen. Und jedes ist bewohnt.

Maria Kellner und ihr Lebensgefährte Klaus Schwerdtfeger teilen sich ihr Wohnzimmer mit derzeit 13 Igeln und einer Katze – eine muntere Wohngemeinschaft, die das kleine Holzhäuschen in der Jelmstorfer Klaepenheide bevölkert. Mehr als 40 Igel hat Maria Kellner in diesem Jahr gepflegt, gefüttert und einige von ihnen auch gerettet. Die meisten von ihnen sind längst wieder ausgewildert, nur die 13 »Wohngemeinschafts-Igel« nicht. Sie brauchen noch Pflege, um den Winter zu überstehen.

Seit sieben Jahren wohnt Maria Kellner nun in der idyllischen Waldsiedlung bei Jelmstorf, doch nicht erst seit dieser Zeit kümmert sie sich um die Stacheltiere. »Ich habe früher in Wolfenbüttel gelebt und auch dort schon Igel betreut«, erzählt sie. Dazu gekommen ist es – wie so oft im Leben – durch einen Zufall. 1962 im Hildesheimer Raum geboren, zieht Maria Kellner von Berufs wegen nach Wolfenbüttel. Hier baut die Groß- und Außenhandelskauffrau ein Möbelhaus auf und leitet dies, 40 Mitarbeiter gehören zum Team. In ihrer Freizeit reitet sie gerne und arbeitet nebenbei als Reitlehrerin. Das ist Maria Kellners Ausgleich zum stressigen Berufsleben. Ein Unfall zwingt sie vor Jahren zum Neuanfang. »Mir wurde das Rückgrat zertrümmert, und ich konnte meinen Beruf nicht mehr ausüben. Auch mit dem Reiten war Schluss«, erzählt sie. Doch Trauer oder gar Resignation strahlen ihre Worte nicht aus. »Ich bin ein unheimlich positiver Mensch. Probleme und Krisen sehe ich als Antrieb an, sie sind zum Lösen da«, machte sie sich damals selbst Mut, so wie sie es als Psychologische Lebensberaterin heute für viele andere Menschen tut. Hilfe geben und dies zum Lebensinhalt machen – für Maria Kellner sind das keine sentimentalen Flausen, sondern es ist ihr Lebensunterhalt.

"Ich bin ein umheimlich positiver Mensch. Probleme und Krisen sehe ich als Antrieb an."

Für die Igel ist ihre zupackende Art oftmals die Rettung. »Meinen ersten Igel habe ich auf einem Friedhof gefunden«, erinnert sie sich. Es war Ende November und ihr Kater war ausgebüxt. Er hatte sich ausgerechnet eine letzte Ruhestätte für seine Rauferei mit einem Artgenossen ausgesucht. Auf Katersuche kam Maria Kellner auch am Komposthaufen vorbei – und fand dort einen Igel, »viel zu klein fürs Überstehen des Winterschlafes«, erzählt sie. Kurzerhand nahm sie ihn mit. »So kam ich zu meinem ersten 200-Gramm-Igel.« Erfahrungen mit der Igel-Aufzucht hatte sie schon bei einer Freundin gesammelt. Bei dem einen Igel blieb es natürlich nicht. »Na ja, wenn sich das erst einmal herumspricht, dann kommen bald weitere hinzu.« Ein Notfall nach dem anderen landet bei Maria Kellner – und die Geschichte wiederholt sich dann auch in der Südheide. Maria Kellner und Klaus Schwerdtfeger möchten endlich zusammenziehen, und sie suchen ein Haus. Eine ruhige Gegend soll es sein, am besten mit Wald vor der Haustür. In Jelmstorf werden die Beiden fündig, das kleine Häuschen passt als Büro, als Igelstation und überhaupt. »Gleich im ersten Dezember ging mein Lebensgefährte raus und kam mit einem kleinen Igel wieder rein«, erzählt sie. Ob der denn um diese Jahreszeit noch draußen umherlaufen dürfe, fragte sich Klaus – natürlich nicht, meinte Maria – und Mecki wurde ihr erster Untermieter. »Wo einer ist, ist bestimmt noch ein zweiter«, dachte sich Maria Kellner. Drei Tage verbrachte die aufgeschlossene, lebhafte Frau mehr draußen als drinnen, bis sie Meckis Schwester fand – Stupsi, die ihren Namen erhielt, »weil sie uns immer anstupste«. Weil in der kleinen Waldsiedlung viele Autofahrer zu schnell unterwegs sind, stellen die Beiden an der Straße ein Hinweisschild auf. Auch der damalige Bürgermeister Norbert Brandl ist dafür. »In Deutschland kommen jedes Jahr 600.000 Igel durch den Straßenverkehr ums Leben«, erläutert Maria Kellner. Sie stellt außerdem bei den Futterplätzen eine Wildkamera auf – und sieht eines Abends einen Igel, »der sah aus wie ein Engel, mit einem Flügel auf einer Seite«. Der vermeintliche Flügel aber war eine tiefe Verletzung in der Seite, ausgerechnet bei ihrer Stupsi, die sie schon ausgewildert hatte. Wieder holt sie die kleine Igelin ins Haus, säubert die Wunde, gibt dem Tier Antibiotika. In Bienenbüttel findet sie einen Tierarzt, der bereit ist, zu helfen: Rainer Freers. Den ruft sie spätabends noch an, einen Tag später wird Stupsi operiert. Die große Wunde hat ihr wohl ein Marder oder ein Marderhund zugefügt. Tagelang spült Maria Kellner die Verletzung, gibt dem Tier Medikamente – und Stupsi überlebt. Sie ist heute sieben Jahre alt und kommt immer mal wieder vorbei. Von Dr. Freers lernt die engagierte Frau viel dazu, beispielsweise, wie die Tiere entwurmt und geimpft werden – eine aufwendige Prozedur. Warum sie diesen Aufwand treibt? »Igel sind in ihrem Bestand gefährdet, weil ihr Lebensraum immer weiter zurückgedrängt wird. Von den zwei Igelarten, die es früher in Deutschland gab, ist der Weißbauchigel bereits ausgerottet. Den kenne ich nur noch von Bildern«, sagt sie. Heute lebt nur noch der Braunbrustigel in unserer Region, ihm setzen neben dem Straßenverkehr auch die intensive Landwirtschaft und allzu ordnungsliebende Gärtner zu. »Eine hohe Zahl wird durch Gifte und Gartenunfälle getötet. Ganz schlimm sind Schneckengifte«, weiß Maria Kellner. Früher hätten Igel eher selten Schnecken gefressen, heute müssten sie das viel öfter tun, weil ihre eigentliche Nahrung, Larven, Käfer und Insekten, seltener geworden sind – eine Folge des »Spritzmittelwahns«. Frisst ein Igel eine Schnecke, die zuvor ihrerseits Gift aufgenommen hat, stirbt er einen langsamen, qualvollen Tod. Zweimal hat Maria Kellner das bisher erlebt, und keinen der beiden Igel konnte sie retten. Die 13 »Wohnzimmer-Igel« aber wird sie auf jeden Fall über den Winter bringen. Sobald sie genügend Gewicht für den Winterschlaf angefressen haben, so um die 800 Gramm, geht es ab in die Garage, wo spezielle Boxen für den Winterschlaf stehen. Das Auto steht derweil auf der Straße. Kälte muss sein, denn solange es noch mild ist, schlafen die Igel ganz einfach nicht ein. »Deshalb müssen sie raus ins Kalte«, meint Maria Kellner. Im Winterschlaf wird der Stoffwechsel heruntergefahren, der Igel frisst und trinkt nicht mehr und atmet nur noch einmal pro Minute. In dieser Zeit zehrt er von seinen Fettreserven. Eine Notration Trockenfutter und Wasser stehen trotzdem bereit. Gibt es einen plötzlichen Kälteeinbruch, so wie in diesem Jahr, dann können Igel von einem Tag auf den anderen in Winterschlaf fallen. Das ist für die kleinen ohne ausreichende Fettreserven schlecht, denn sie überstehen den Winter oft nicht. Während des Winterschlafes nimmt ein Igel etwa ein Drittel seines Gewichtes ab. So gegen April werden die Tiere mit den steigenden Temperaturen wieder munter. Maria Kellners Schützlinge werden dann erst einmal gewogen. Sind sie kräftig genug, werden sie ausgewildert. Die Igel bauen sich dann ihr Sommernest, aber ab und zu tauchen sie wieder an der altbekannten Futterstelle auf. »Igel haben ein sehr gutes Gedächtnis und eine sehr gute Nase. Fressen können sie bis zu einen Kilometer riechen«, erläutert Maria Kellner, die sich natürlich immer freut, wenn sie ein »bekanntes Gesicht« sieht. 

Für das kommende Jahr planen NABU, Kreisverwaltung und Maria Kellner eine Igel-Auffangstation in Jelmstorf. Falls es klappt, könnte die Igel-Hilfe professionalisiert werden. Kurz vor Weihnachten fand der erste Besprechungstermin mit Vertretern des NABU, des Veterinäramtes und der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Uelzen statt. »Wenn wir eine offizielle Auffangstation haben, können wir einen Antrag auf Fördergelder stellen«, hat sich der Uelzener NABU-Vorsitzende Karl-Heinz Köhler vorgenommen. »Das wäre unsere Starthilfe. Für die laufenden Kosten müssen dann weitere Gelder eingeworben werden«. Naturfreunden rät der Fachmann, kleine Igel nicht mit ins Haus zu nehmen, sondern im Zweifelsfalle lieber eine Futterstelle einzurichten. Die beste Hilfe ist außerdem ein Garten, in dem Igel Unterschlupf und Nahrung finden können. Also statt raspelkurzem Rasen lieber eine blühende Wiese und im Herbst hier und dort einen Laubhaufen liegen lassen! Die NABU-Kindergruppe jedenfalls hat Maria Kellner schon kräftig unterstützt: Gemeinsam mit ihrer Betreuerin Caroline Rothe buken die Kinder Igel-Kekse, die sie kürzlich auf einem Markt verkauften. 200 Euro sind dabei zusammen- gekommen. Das ist doch ein gutes Startkapital!

Die Igel sind nur Saisongäste, die Katze aber bleibt das ganze Jahr. Ihren Lieblingsplatz hat sie im Koffer.