EINE BURG OHNE ZINNEN UND 
EIN HERRENHAUS IM SEE

1292 siedelte sich die Familie von Estorff in Veerßen am Stadtrand von Uelzen an – und sie wohnt immer noch hier.

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos / Video 

Es ist ein bisschen wie in Harry Potter. Dort, wo im Uelzener Ortsteil Veerßen die Parkstraße in den Krempelweg mündet, liegt ein kleiner asphaltierter Platz. Besonders idyllisch ist der nicht, denn hier stehen die Container für den Recyclingmüll. Autos halten, und die Veerßener bringen alte Sachen und ihre leeren Flaschen und Gläser, die scheppernd in den Bäuchen der Behälter landen. Die immer neugierige Momo möchte gerne rundherum schnüffeln, aber das soll sie hier nicht, denn bei den Containern liegen Glasscherben auf dem Boden. Gegenüber an der kleinen Haltestelle warten Leute auf den Bus, geradezu führt die Straße an der Veerßer Klinik vorbei zur Hauptstraße.

Doch rechterhand, direkt im Knick der Kreuzung, öffnet sich ein unscheinbarer Zugang. Ein paar Schritte hinein – und wir sind in einer anderen Welt. Eine lange, schmale Allee, gesäumt von Buchen, führt auf eine alte Burganlage zu. Hohe Mauern mit Zinnen und Türme ragen hier nicht auf, enttäuscht wird der Wanderer aber trotzdem nicht, denn von der früheren Ottenburg künden noch heute mächtige Erdwälle. Tief eingeschnitten umgeben die einstigen Burggräben das weiträumige Areal, auf dem sich seit der Aufgabe der Burg ein lichter Laubwald ausgebreitet hat.

Mächtige Erdwälle zeugen von der einstigen Burgbefestigung.

Hier also stand das »feste Haus« der Familie von Estorff. Die Burg existierte allerdings schon etliche Jahre, bevor sich die Adelsfamilie im Jahre 1292 vor den Toren der Stadt Uelzen ansiedelte. Die Kopie der Kaufurkunde befindet sich heute noch im Besitz der Familie. »Unsere Vorfahren haben die Burg für 250 Mark Lüneburger Pfennige von der Familie von Hitzacker gekauft«, erzählt Ernst von Estorff. »Davor gehörte sie der Familie von Veerßen.« Den Ort hatten die von Estorff mit Bedacht gewählt. Die Familie besaß Salzrechte in Lüneburg, im Dienste der welfischen Herzöge stellte sie im 13. Jahrhundert auch Vögte für die Stadt, mit deren Vertretern sie allerdings oft im Streit lag. Dem wollte man ausweichen und siedelte sich deshalb weiter südlich an, nicht weit von der heutigen B4, die damals eine wichtige Handelsstraße war. Die sogenannte Salzstraße führte von Lüneburg über Uelzen nach Braunschweig, und mancherorts mussten durchreisende Kaufleute Wegezoll entrichten. Auch zur Ottenburg gehörte damals eine Zoll-Warte, worüber es mehrfach zu Auseinandersetzungen mit der Stadt Uelzen kam. Die Warte ist inzwischen zwar gänzlich verschwunden, ihr Standort aber ist in der Ortsbezeichnung Rote Burg überliefert geblieben.

Zu der großen Niederungsburg, die neben Barnstedt zu einem Zentrum des Familienbesitzes ausgebaut wurde, gehörten einst Hauptburg und Vorburg, ein langer Zufahrtsweg und der Burggraben. Im Süden und Osten war sie mit Mauern und Palisaden umgeben, nach Norden und Westen hin sorgten Moor und Wasser für natürlichen Schutz. Vermutlich wurde das Innenplateau künstlich erhöht. Was für ein riesiger Arbeits- und Organisationsaufwand mit dem Bau verbunden gewesen sein mag!

Die großen Findlinge im Nordosten der Burg sind keine Burgreste, sondern stammen von einer Gruft aus dem 19. Jahrhundert.

Mit ihrem Umzug nach Veerßen waren die von Estorff den Streitigkeiten mit den Lüneburgern zwar buchstäblich aus dem Weg gegangen, allein, die rechte Ruhe mochte nicht einkehren. Welche Seite besonders zänkisch war, muss hier unbeantwortet bleiben, doch mit den Jahren stellte sich neue Zwietracht ein. Diesmal mit der Familie von Knesebeck, die sich kein bisschen fein verhielt und im Jahr 1483 einen Angriff auf die Ottenburg unternahm. Die Eroberung konnte abgewehrt werden, doch nun versuchten es die Knesebecker mit Hinterlist. Am 9. Juni 1485 wurde Anna von Estorff in Uelzen getraut, Ottrave von Barfelde war der Bräutigam. Natürlich war die ganze Familie mit dem Brautpaar in der Kirche. Die von Knesebeck planten, die Hochzeitsgesellschaft beim Gang zur Kirche zu überfallen. Ein gewisser Harneit von Hösseringen führte den Trupp der Angreifer an. Mit seiner Ortskenntnis war es jedoch nicht weit her: Die Ritter verritten sich! Sie kamen erst an, als die ganze Gesellschaft schon in der Kirche war und ließen Zorn und Enttäuschung an der nur schwach besetzten Burg aus. Sie brannten das Vorwerk und die Ställe nieder und plünderten die Burg, die anschließend nicht wieder aufgebaut wurde. »Der Wiederaufbau hätte etwa 1000 Taler gekostet, das lohnte nicht«, weiß Ernst von Estorff aus der Familienchronik. Außerdem war die Anlage wohl inzwischen auch nicht mehr zeitgemäß.

Eine neue Behausung musste her. An Platz war in der Heide damals kein Mangel, an Wasser rund um die alte Ottenburg auch nicht. Und so baute man ein paar Meter weiter nördlich eine neue Burg auf – wiederum mitten im Wasser. Auch diesmal wurde eine künstliche Insel geschaffen, die Fundamente der Wasserburg – Eichen- und Kiefernhölzer und Steine der alten Burg – fanden die von Estorffs bei der Sanierung ihres Hauses unter dem Keller. »Auf diesem Fundament steht unser Haus immer noch – und es ist sehr stabil«, so Ernst von Estorff. Nur der Anbau, den man vor 300 Jahren hinzufügte, sackte alsbald ab, weil er nicht mit auf der alten Gründung stand. 200 Jahre nach ihrer Einweihung brannte die Wasserburg durch einen Blitzeinschlag aus, und daraufhin wurde von 1700 bis 1702 das heutige Herrenhaus errichtet, das allerdings erst 1709 bezogen wurde. »Das Haus wurde erst einmal einige Jahre trocken gewohnt«, erzählt Ernst von Estorff. In der Zwischenzeit lebte die Familie vermutlich auf dem Gut Barnstedt. Bei den Kämpfen um Uelzen kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auch das Gut Veerßen in Mitleidenschaft gezogen. Sämtliche Wirtschaftsgebäude brannten ab, nur das Wohnhaus und der Hühnerstall blieben fast unversehrt. Auch große Teile des Familienarchivs wurden vernichtet. 

Das »neue Haus«
Das »neue« Herrenhaus wurde 
um 1700 erbaut. Die Veranda 
ist etwas jünger.
Einst stand das Herrenhaus auf 
einer Insel im See. 
Das Türschloss trägt die Jahreszahl 1752, es wurde 50 Jahre nach der Fertigstellung des Hauses eingebaut.

»Für uns ist das der wichtigste Raum des ganzen Hauses. Wir leben quasi auf der Veranda«, sind sich Anne und Ernst von Estorff einig. Familienhund Pepe hat hier sein Körbchen, und auch zum Calluna-Gespräch laden sie in den reich verzierten Vorbau, der mit 150 Jahren ein wenig jünger ist als das große Fachwerkhaus, dessen Eingang er ziert.

Anne und Ernst von Estorff mit Familienhund Pepe vor der Veranda ihres Hauses.


"Für uns ist das der wichtigste Raum des ganzen Hauses. Wir leben quasi auf der Veranda"

Drei Generationen wohnen unter dem Dach des Herrenhauses. Ja, ganz schön groß sei es, ist sich das Ehepaar von Estorff einig, doch anderswo zu leben, das kam für die Beiden nicht in Frage.

Für Ernst von Estorff ist es das Elternhaus – und ernsthaft weg von Uelzen, das wollte er nie. Aber zwischendurch eine Auszeit von der ländlich-beschaulichen Heidestadt – das sollte sein. Und so packte der junge Mann nach seiner landwirtschaftlichen Ausbildung erst einmal seine Siebensachen und machte sich auf in die Welt. »Ich wusste, dass ich irgendwann hier als Landwirt mein Leben leben werde«, sagt er und blickt über den Vorplatz mit der Zufahrt und dem Blumenrondell. In Sichtweite steht der große Unterstand für die landwirtschaftlichen Fahrzeuge, linkerhand lässt die riesige Trauerweide ihre schlanken Arme nach dem Boden greifen.

»Landwirt zu werden, das war mein Wunsch«, sagt Ernst von Estorff, »wenn man das nicht möchte, dann wird das nichts«. Bevor er in Uelzen Verantwortung übernahm, lebte und arbeitete er vier Jahre lang in England, Frankreich, Kanada, Australien und den Vereinigten Staaten, lernte die dortigen Arbeitsweisen kennen, nahm Impulse mit nach Hause. »Es gibt große Unterschiede, wie Landwirtschaft betrieben wird«, sagt er. Manches sei Sache der Mentalität. In Frankreich beispielsweise habe er in großen Kooperativen die Stärken der Teamarbeit kennengelernt. Auch die Ruhe und Gelassenheit der Menschen in der Bretagne habe ihn beeindruckt. Und dass man sich fürs Essen immer Zeit genommen habe. »Hier in Deutschland oder in England wird im Zweifelsfalle auf dem Weg zum Mähdrescher gegessen. Ich habe gelernt, dass es auch möglich ist, einmal etwas warten zu lassen«, sagt er. Nach seiner Rückkehr aus Australien übernahm Ernst von Estorff 1989 den elterlichen Betrieb. »Es war schön, wieder nach Hause zu kommen.«

Zu einem so alten Haus passen keine neuen Gartengeräte.