SUDERBURGS SCHÖNSTE HEISST ERICA

Burschenschaft übernahm vor 50 Jahren die traditionsreiche Krugwirtschaft

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos / Videos

Alle drei Männer haben zum Empfang ihr rot-weiß-grünes Band angelegt, ansonsten unterscheiden sie sich nicht von den vielen anderen jungen Leuten, die in Suderburg tagtäglich unterwegs sind: Sebastian Ernst und Stephan Möhring, beide im 5. Semester an der Ostfalia, und Sven Liebisch, der seinen Abschluss seit einigen Jahren in der Tasche hat, sind Mitglieder der Suderburger Burschenschaft »Erica«. Heute führen sie durch das frisch renovierte Erica-Haus im alten Ortskern und geben ganz nebenbei einen kleinen Einblick in ihr Leben als Burschenschafter. »Die mit Abstand schönste Immobilie in unserem kleinen Heideort«, wie es Altherrenpräsident Axel Pungs alias Berti formuliert, wird von der Suderburger Buschenschaft »Erica « seit nunmehr 50 Jahren bewirtschaftet und bietet dank der Unterhaltungsmaßnahmen der vergangenen Jahre inzwischen elf Studierenden eine Heimstatt.

»Die mit Abstand schönste Immobilie in unserem kleinen Heideort«
Sebastian Ernst, Stephan Möhring und Sven Liebisch führen durch das frisch renovierte Erica-Haus.

Direkt am Ufer der Hardau, in unmittelbarer Nachbarschaft der Suderburger Kirche mit ihrem wuchtigen mittelalterlichen Rundturm gelegen, gehörte das Erica-Haus einstmals zu den zahlreichen Suderburger Gastwirtschaften. Die alte Krugwirtschaft »An der Kirche« wurde im Jahr 1801 erstmals genannt und war Teil einer Anbauernstelle. Wirt war Johann Heinrich Ludewig Glimmann. 

Selbstverständlich gab es das Schankrecht nicht unentgeltlich, und so musste Wirt Glimmann alljährlich eine Konzession zahlen, die sogenannte »Krug-Nahrung«. Was er tun und nicht tun durfte, war ihm auch sonst nicht selbst überlassen, sondern wurde im Landtagsabschied aus dem Jahr 1624 detailliert geregelt: Während der Gottesdienste musste die Schankwirtschaft zugehalten werden und an Sonn- und Feiertagen durften Gasthäuser nicht besucht werden. Dem Wirt war es zudem nicht erlaubt, seinen Gästen mehr als einen Reichstaler zu borgen – man darf vermuten, dass der Reichstaler in diesem Zusammenhang wohl eher in seiner flüssigen Form gemeint war. Auch durften in Pestzeiten keine fremden und ausländischen Personen ohne Attestate zur Nacht aufgenommen werden. Das Papier regelte sogar, wie der Wirt seine Gäste zu empfangen hatte, nämlich »mit guten, bescheidenen Worten«. Die Gäste seien »mit bequemen, reinlichen Logierungen, Bettegewand und anderem Hausgerathe« auszustatten.

Das ehemalige Gasthaus Dehrmann mit dem markanten  halbrunden Eckturm ist seit 1965 Sitz der Burschenschaft.

Seit 1826 war der Gastwirt gehalten, für die Beherbergung von Fremden einen Nachtzettel zu verlangen. Man wollte auf diese Weise den Aufenthalt von »gefährlichem Gesindel, verdächtigen Personen und Vagabunden« verhindern. Auch Soldaten durften nur gegen Vorlage eines Dokumentes oder Urlaubsnachweises aufgenommen werden, für die Ergreifung von Deserteuren waren Belohnungen ausgesetzt. Der Suderburger Krugwirt Glimmann hatte mit dem Soldatenleben so seine Erfahrungen, war er doch Bereiter im 2. Reiterregiment des Landes-Corps gewesen. In seiner Wirtschaft betrieb er nebenbei einen Krämerladen, und zeitweise war er Gemeindevorsteher in Suderburg. Im Jahr 1876 erhielt Heinrich Christoph Dehrmann, ein Nachfahre Ludewig Glimmanns, die Schankerlaubnis. In seiner Zeit wurde das Haus mit dem charakteristischen halbrunden Eckturm errichtet. Dahinter befand sich die gemütliche Gaststube mit dem Tresen, die noch heute fast so aussieht wie vor 100 Jahren und von den Ericanern als Gemeinschaftsraum genutzt wird. 

Stolz auf sein stattliches Gasthaus,ließ Gastwirt Dehrmann Postkarten drucken.

Am 28. August 1965 schloss die Burschenschaft einen Pachtvertrag mit Familie Dehrmann, der auf zehn Jahre angelegt war und den Ankauf des gesamten Inventars für 13.500 Mark beinhaltete. »Wir sitzen noch heute auf den Stühlen und Tischen von damals«, erzählen die Studenten Sebastian Ernst und Stephan Möhring. Geplant war die Einrichtung eines Studentenheimes. Die Suderburger fanden das zwar insgesamt prima, aber man kann ja nie vorsichtig genug sein ...

Und so schrieb ihnen der damalige Direktor der »Ingenieursakademie für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik«, Helmut Damrath, ins Tagebuch: »Durch eine strenge Hausordnung ist dafür Sorge zu tragen, dass es zu keinerlei Auswüchsen im Heimbetrieb kommt.« Im ersten Entwurf der Hausordnung hießt es übrigens auch, dass »grundsätzlich keine weiblichen Personen im Haus übernachten dürfen«. Diese Vorschrift haben die Ericaner dann aber doch bleiben lassen. Heute ist es selbstverständlich, dass auch Studentinnen im Haus wohnen dürfen. Eine Mitgliedschaft in der Burschenschaft ist ebenfalls nicht erforderlich. Einer aus den Gründungsjahren des Erica-Hauses ist Alfred Gralle, alias Winker Z!. Er erinnert sich an folgende Episode: »Einmal muss es bei Wittinger Bier und Gesang besonders hoch hergegangen sein. Und so stand plötzlich – weit nach Mitternacht, oder war es schon die frühe Morgenstunde? – unser Nachbar Pastor Ewald Schmidt in der Tür zum Schankraum. Nachdenklich betrachtete er die Gesellschaft eine Weile und sprach dann leicht resignierend in die Stille hinein: ‚Die Stimmen fehlen mir morgen in der Kirche!'« 

Hoch her geht es auch heute ab und an in der Burgstraße, so wir kürzlich beim Fest zum 50. Jubiläum des Ericahauses. Das Singen spielt bei den Ericanern ebenfalls noch immer eine wichtige Rolle im Zusammenleben. In den 1960er Jahren stand für die Suderburger Burschenschafter die deutsche Wiedervereinigung auf der Agenda. Um mehr über die DDR – hier immer noch SBZ (Sowjetische Besatzungszone) genannt – zu erfahren, abonnierten sie das »Neue Deutschland«, das als zentrales Sprachrohr der SED-Zentrale die sozialistische Ideologie verbreitete. Eines Tages traf unerwarteter Besuch im Erica-Haus ein: Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wollten ergründen, ob sich in Suderburg wohl eine Gefahr für die demokratische Grundordnung zusammenbraute. Zu der stehen die Burschenschafter laut eigenem Bekunden selbstverständlich – und das »Neue Deutschland« empfanden sie bald als »tödlich langweilige Lektüre«.

Bis auf den Wandschmuck ist die Einrichtung der Gaststube seit 50 Jahren nahezu unverändert geblieben.

Im Jahre 1975 kaufte die Burschenschaft das Ericahaus schließlich und begann mit umfangreichen Renovierungsarbeiten. »Das war dringend nötig, denn in den zehn Jahren zuvor war so gut wie nichts am Haus getan worden«, erzählt Sven Liebisch vom Altherrenverband. Die schönen Sprossenfenster wurden leider nicht nach originalem Befund wiederhergestellt, was das äußere Erscheinungsbild des Hauses bis heute beeinträchtigt. Das Suderburger Domizil bleibt für einen Ericaner wohl für immer ein Stück Heimat und Lebensgeschichte. Die Burschenschaft auch. So sieht es Sven Liebisch (»Ich freue mich immer, wenn ich um die Ecke biege und das Haus sehe«), und so sehen es die Studenten Sebastian, alias Brenneke und Stephan, alias Murmel. »Man ist für den Rest seines Lebens dabei«, fassen sie zusammen. Allerdings plagen sie Nachwuchssorgen. Von den derzeit 725 männlichen Studierenden (insgesamt studieren derzeit 1370 Menschen in Suderburg) sind nur zehn Aktive in der Burschenschaft, die nur männliche Mitglieder zulässt. »Man beginnt als Fuchs«, erzählt Sven Liebisch, der bis 2002 in Suderburg studierte. Deshalb heißt das Zimmer der Anwärter »Fuchsenstall«. Stephan Möhring bekam den Tipp mit der Ostfalia und mit den Ericanern von seinem Cousin, der vor ihm in Suderburg studiert hat. Er war von Beginn an dabei und schätzt das Leben »auf'm Haus«, wie man in Insiderkreisen sagt. Besonders wichtig sei der Teamgeist. »Man bekommt ein besonderes Gemeinschaftsgefühl, macht ganz viel zusammen und besucht andere Verbindungen «, zählt er auf. 

Auch die Pflege alter studentischer Bräuche sei ihm wichtig. Gefochten wird aber nur noch von denen, die es möchten – ein »Schmiss« ist also auch für Burschenschafter kein wichtiges akademisches Attribut mehr. Was ihre Farben bedeuten, dass wissen die Ericaner nicht so recht: Rot für die Heide, weiß für den Heidesand und grün für die Landschaft? So wird vermutet. Auf jeden Fall ist die Bindung an die Region wichtig. Das zeigt sich auch am Aufnahmeritual: »Erst bekommt man einen Eimer Hardauwasser über den Kopf, und dann springt man hinein!« Gut, dass die Hardau direkt am Haus vorbeifließt. Und wer zu weit rausgeschwommen ist, kann sich auf die alte Waschbank retten. 

INFO suderburg-damals.de, b-erica.de

Sogar einen eigenen kleinen Steg gibt es – nicht unwichtig für das Aufnahmeritual der Burschenschaft.