Der schönste Spielplatz der Welt

Im Waldkindergarten sind alle immer in Bewegung 

MARION KORTH / Text // INKA LYKKA KORTH / Fotos / Videos

Was für ein Wald! Wer hier nur Kiefern und Fichten sieht, ist nicht von dieser Welt. Hinter dem Holzzaun dehnt sich ein Kosmos von Kindern geschaffen. Die Grundversorgung steht, hier gibt es ein Krankenhaus, eine Burgerbude, und an diesem Vormittag hat auch noch ein Zirkus sein Zelt aufgeschlagen. Was braucht der Mensch mehr?! Die Währung hier ist hart und piekt im Portemonnaie: Zapfen. Später wird mir Fietje eine Kostprobe aus dem Imbiss vorbeibringen: dunkles Rindenstück zwischen zwei helleren Rindenstücken – ganz klar, einen solchen veganen Burger lasse ich mir gern schmecken. Stine sorgt für den Nachtisch und verteilt Lollys am Stil (Kiefernzapfen auf Stöckchen gesteckt): Apfel, Erdbeere, Schoko, selbst welches mit Popcorngeschmack hat sie anzubieten. Ein ganz normaler Tag im Waldkindergarten nimmt seinen Lauf.

An der "Burgerbude" herrscht Hochbetrieb. 

In diesem Jahr feiert der Kindergarten 20. Geburtstag. Eltern hatten von der Idee der ersten Waldkindergärten in Dänemark gehört, gründeten einen Trägerverein und »bauten« ihren Waldkindergarten – nicht mit Steinen, sondern mit Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft. 

»Die Idee war neu, dass die Kinder die ganze Zeit draußen sind, das konnte sich niemand vorstellen«, sagt Erzieherin Katrin Buhle. Aus anfänglicher Skepsis ist längst verlässliche Unterstützung geworden. Der Trägerverein kann heute auf die Gemeinde zählen, bekommt zudem Kreis- und Landesmittel, so wie andere Kindergärten auch. Die Eltern gehören fest zum Team, streichen die Hütte, räumen auf, putzen, backen Kuchen und betreuen Spielstände bei Festen. Immer ist irgendetwas zu tun.

Auch dieser Tag beginnt an der Schutzhütte, die weniger Aufenthalts- als Aufbewahrungsort ist. Bei unserem Besuch steht die offizielle Geburtstagsfeier noch bevor, die Kinder üben dafür ein Lied ein. »Flieg wie ein Schmetterling«, singt Elisabeth Mentz, die von allen hier nur Elli genannt wird, und spielt Gitarre dazu.

Die Kinder fallen noch etwas zögernd in ihren Gesang mit ein, sind nicht nur Sänger, sondern im Verlauf des Liedes auch noch Bäume, die Arme schwenkend in der Luft wie sich wiegende Wipfel, dann wieder Schmetterlinge und Blumen. Noch ist nicht ganz klar, wer hier wen umkreisen muss, aber das wird. Nach einem weiteren Durchgang beschließt Elli: Es reicht für heute. »Das müssen wir wohl noch einmal üben«, sagt sie und lacht.

Die Gitarre wird in der Schutzhütte verstaut und der Rucksack gepackt: Verbandskasten, Handy, alles dabei, was eine Erzieherin im Waldkindergarten vorschriftsmäßig so braucht. Auch die Schutzhütte ist Bedingung. »Aber wir sind eigentlich immer draußen«, sagt Katrin. Und: »Ich denke darüber eigentlich gar nicht mehr nach, was für ein Wetter ist.«

Feste Stiefel, Hose, Jacke – sie und Elli könnten auch als Försterinnen oder Rangerinnen durchgehen. Die Kinder stehen ihnen in nichts nach, sind ebenso gut und wetterfest verpackt. Gerade im Winter nehmen die Erzieherinnen die Eltern gern einmal mit in den Wald. »Damit sie sich eine Vorstellung machen können, was sie ihren Kindern am besten anziehen sollten«, erläutert Katrin.

Außer der gefüllten Brotdose und der Flasche mit Tee oder Wasser haben die Kinder ein Sitzkissen und einen feuchten Waschlappen als Pflichtausrüstung dabei. Spielsachen von Zuhause sind hingegen tabu, im Wald finden die Kinder alles, was sie brauchen, um Hütten zu bauen und ihre Fantasiewelt auszustaffieren. Nur mal mitbringen und kurz zeigen ist hingegen erlaubt. »Meine Mama hat den Schnuffihund dann wieder mit nach Hause genommen«, erzählt mir eines der kleinen Mädchen.

Sonne, Regen, Schnee – jeder Tag im Wald und jede Jahreszeit ist anders. Statt sich neue Bastelarbeiten auszudenken, müssen Katrin und Elli im Herbst, Winter und auch noch an kalten Frühjahrstagen Ideen für Lauf- und Bewegungsspiele haben, damit den Kindern nicht kalt wird. Auch im Sommer ist es nicht immer gemütlich. »Im Mai kommen die Mücken und etwas später dann die Wespen«, sagt Katrin. Größere Tiere, wie Wildschwein oder Reh, hat sie hier noch nie gesehen, die nehmen vor der Kinderschar offenbar lieber Reißaus. Die Nachricht, dass die Wölfe wieder da sind, habe trotzdem niemand auf die leichte Schulter genommen. Das Thema sei mit den Eltern diskutiert worden. Mit wachen, aber nicht ängstlichen Blicken wird die Situation im Auge behalten, ohnehin dürfen die Kinder im Wald nur in Sichtweite von Elli und Katrin spielen. Außer den lästigen Mücken gibt es noch andere wilde Tiere: »Unsere Kinder haben keine Läuse, unsere Kinder haben Zecken.« Borreliose ist die größte Gefahr, doch eigentlich scheint der Wald allen eher wohl zu tun. »Auch wir werden mal krank, aber das geht dann ganz schnell wieder vorbei«, sagt Katrin. Das viele Draußensein härtet offenbar tatsächlich ab, auch stecken die Kinder sich untereinander nicht so schnell an wie in geschlossenen Räumen, hat sie festgestellt.

Es ist die frische Luft und die viele Bewegung, die hier munter macht. Reguläre Sportstunden stehen nicht auf dem »Unterrichtsplan«, die Kinder laufen, klettern, balancieren und schaukeln unentwegt. Weil dieser Bereich mehr als abgedeckt ist, bleibt viel Zeit für anderes. Für Ausflüge in die öffentliche Bücherei zum Beispiel oder auch zum Hundertwasserbahnhof in Uelzen, zu Ausstellungen oder irgendwohin anders in die Natur. »Das machen wir ganz spontan, mit 15 Kindern ist das kein Problem«, sagt Katrin. Die Kinder kennen die Umgebung oft besser als ihre Eltern. Außer Bäumen lernen die Vorschulkinder das Schwimmbad kennen und machen ihr »Seepferdchen«. Zwischen Kiefern lässt sich auch der Kosmos erklären – über vier Wochen hatten die Kinder sich mit dem Weltraum beschäftigt.

Alles hat seine Ordnung, die Aufgaben sind klar verteilt. In dieser Woche ist Ben der »Türsteher«. Hinter der Schutzhütte gibt es nämlich noch einen Zaun und eine Pforte, die die Grenze zum richtigen Wald markieren. Dort hat Ben sich jetzt postiert, passt auf, dass keiner drängelt und kein Kind zurückbleibt. Elli und Katrin zählen noch einmal durch, 12 von 15 Kindern müssen es heute sein: zehn, elf, zwölf – passt, es kann losgehen. Außer dem Türsteher gibt es noch den Glockenläuter, der das Signal gibt, wann es Zeit ist, die Sachen einzupacken und sich für den Abmarsch fertig zu machen und dann die vielleicht geheimnisvollste Position, die der zwei Fragezeichen.

Gespielt wird mit allem, was 
der Wald so hergibt.

Zwei Kindern bestimmen gemeinsam, in welcher Ecke des Waldes in der betreffenden Woche gespielt wird. Danach sind zwei andere Kinder an der der Reihe, um sich einen Lieblingsort auszuwählen. »Ihren« Wald kennen die Kinder in- und auswendig, trotzdem fällt ihnen immer etwas Neues für die Zeit des Freispiels nach dem Frühstück ein.

Frühstückspause

Der Proviant für die Frühstückspause bringt jedes Kind selbst mit in den Wald.

Ellie und Katrin schauen sich um, einige Kinder drängen sich um die Imbissbude, drei Jungs haben sich in ihre Hütte zurückgezogen, die Hängematte ist belegt, die Schaukeln sowieso, drei Kinder malen. »Alle haben gut zu tun, dass sind die Früchte unserer Arbeit«, sagen die beiden Frauen. Es sei keine Selbstverständlichkeit, dass sich alle von allein beschäftigen. »Sie müssen erst lernen, was sie im Wald alles machen können«, sagt Elli.

Spielideen und die passenden Spielpartner müssen jeden Tag neu gefunden werden, das schult, vor allem die Fantasie, aber auch den Umgang mit Worten. Aus der Grundschule erhalten die beiden Frauen öfter die Rückmeldung, dass »ihre« Waldkinder sich besonders gut ausdrücken können. Die Sprache ist für sie der Schlüssel, um im Wald ohne Spielsachen und immer wechselnde Anreize miteinander Spaß haben zu können.

Die Zirkusvorstellung beginnt!

So, genug gequatscht, Melina drängelt, die Zirkusvorstellung beginnt gleich. Den ganzen Morgen hat sie mit Levi die Kunststücke eingeübt. An der Kasse türmen sich die Kieferzapfen, ohne Eintritt zu zahlen, läuft hier nichts. Alle haben sich auf den Waldboden gehockt, es kehrt Ruhe ein. Melina und Levi, die beiden Artisten, beginnen zu schaukeln ...

Schön war's im Waldkindergarten.