EIN WUNDERBARER SCHATZ

Auf den Spuren der Musik in den Heideklöstern 

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos / Video

Es begann im Kloster Wienhausen. Ulrike Volkhardt, Musikerin, Professorin für Blockflöte und Kennerin alter Musik besuchte ein Konzert im Kloster und wurde neugierig auf die Geschichte der Musik in unserer Region. »Es kann doch nicht sein, dass wir nichts von unserer Musik kennen«, sagte sie sich – und machte sich auf die Suche, immer in enger Zusammenarbeit mit den Heideklöstern.

»Hier in Wienhausen wird ein besonderer Schatz gehütet, das Wienhäuser Liederbuch«, verrät der Archivar der sechs Heideklöster, Wolfgang Brandis, und erlaubt auch einen Blick darauf.

Nein, seinen außergewöhnlichen Inhalt sieht man dem Büchlein mit dem schlichten weißen Einband nicht an. Das Liederbuch wurde bereits 1934 von Heinrich Sievers im Wienhausener Klosterarchiv gefunden und 1947 von Paul Alpers als Textausgabe herausgegeben. Im Jahr 2002 erschien eine Neuedition von Peter Kaufhold in der Schriftenreihe des Klosters, die alle Texte und deren Übersetzung vorstellt. Das Wienhäuser Liederbuch enthält bekannte Kirchenlieder, aber auch profane Weisen wie etwa die Vogelhochzeit. »Ein wunderbarer Schatz«, schwärmt Wolfgang Brandis. 61 Texte und Textfragmente enthält der kleine Band, darunter auch eine wohl parodistische Strafpredigt an die Nonnen, die keineswegs nur geistlichen Weisen zugetan waren. Während einer Visitation im Zuge der Erneuerungsbewegung des Klosterlebens im 15. Jahrhunderts fanden die Inspektoren beispielsweise Nonnen vor, die bei der Arbeit fröhlich weltliche Lieder sangen. Dagegen wurde dann vorgegangen. Devotio moderna (Neue Frömmigkeit) wurde diese Bewegung genannt, die sich von den Niederlanden aus in ganz Norddeutschland verbreitete, Thomas von Kempen war einer ihrer prominenten Vertreter.

Der Fund des Liederbuches war Anlass für die Reihe der Wienhausener Nonnenchor-Konzerte; in den 1970er Jahren wurde eine Schallplatte herausgegeben, später eine CD. Um 2005 waren alle Exemplare ausverkauft, und eine neue CD sollte produziert werden. Die Äbtissin des Klosters Wienhausen, Renate von Randow, wandte sich mit diesem Anliegen an Ulrike Volkhardt, auch Archivar Wolfgang Brandis war beim Termin zugegen.

»Es handelte sich zunächst einmal um das Liederbuch«, sagt der Archivar. »Aber da ist noch viel mehr«, hatte er damals angemerkt – und Ulrike Volkhardt war sofort hellhörig. Gemeinsam ging man ins Archiv hinunter, und die Musikerin war entzückt, welche musikalischen Schätze hier schlummerten. »Da müssen wir auch in den anderen Klöstern nachschauen«, schlug sie vor – es war die Geburtsstunde des gemeinsamen Musikprojektes. Fördermittel wurden eingeworben und drei Standbeine festgelegt: Die Erschließung der Handschriften und Veröffentlichung in einem Katalog, die Produktion von CDs für jedes Kloster und die Herausgabe von Aufführungsheften, die für den praktischen Gebrauch gedacht sind. »Wir wollten es möglich machen, dass diese Musik gespielt und gesungen werden kann«, sagt Ulrike Volkhardt.

Erst einmal auf der Suche, waren selbst Fachleute überrascht, wie viele Nachweise mittelalterlicher Musik in den Klöstern aufbewahrt werden, oftmals in Zweitverwendung für Buchdeckel und Einbände. »Bücher wurden früher oft mit Holz eingebunden, innen verwendete man dazu häufig nicht mehr benötigte Handschriften. So blieben viele alte Dokumente erhalten«, erläutert Ulrike Volkhardt. 

Zehn Jahre lief das Projekt, nun wurden die Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Kloster Ebstorf geschah das mit einem Vortrag und Konzert. »Wir haben wirklich spektakuläre Funde gemacht, diese Musik war so gut wie nicht präsent«, erläutert die Professorin und fügt hinzu: »Wir sind noch ganz am Anfang mit den Forschungen.«

Bis ins 20. Jahrhundert wurde Musik vielfach ohne Noten aufgeschrieben, denn man kannte die Melodien. Neben Texten und Weisen fand Ulrike Volkhardt viele Darstellungen vom Musizieren, wie etwa die berühmte Guidonische Hand, eine Merkhilfe für das Tonsystem, im Kloster Ebstorf. Eine Benediktinerin spielt die Handorgel, eine kleine Schülerin erhält Unterricht.

Die Bandbreite ist groß: Da gibt es Harfen und Trommeln, Geigen und Flöten, es gibt Schellen und Glocken, Fidel und Dudelsack. »Im Kloster Medingen gab es ein sehr profiliertes Skriptorium (Schreibstube), wir fanden dort Handschriften voller Musikdarstellungen«, so Ulrike Volkhardt.

Reich verzierte mittelalterliche Handschrift mit Noten und Text aus dem Kloster Wienhausen.

Einfach ist die Forschung dazu aber nicht, denn obwohl in den Klöstern jeder Tag von Gottesdienst, Gebet und Gesang strukturiert war und der liturgische Gesang viele Stunden des klösterlichen Tagesablaufs ausfüllen konnte, war dies so selbstverständlich, dass es in den Quellen kaum je erwähnt wird. Wie die Nonnen die Gesänge erlernten, wie sie die Aufgaben zwischen Chorsängerinnen und Solistinnen aufteilten, ob sie eigene Lieder schufen – solche Details wurden nur selten aufgezeichnet. »Einige Klöster haben bestimmte Gesänge und einige haben alle im Repertoire«, hat Ulrike Volkhardt erkannt. Und sie hat auch herausgefunden, dass der Ebstorfer Konvent besonders komplex gewesen ist. »Das muss ein großer Konvent mit guten Sängerinnen gewesen sein.«

»Fröhliche Pauken und Gesang soll der harmonische Geist des Chores erschallen lassen und den Herrn loben, an dem sich der Knecht im Himmel erfreut«, 

heißt es in dem Lied Timpana leta chori, das in Ebstorf gefunden worden ist.

Die Musikerin ist überzeugt, dass in den Klöstern die dargestellten Instrumente gespielt worden sind, auch wenn dies in der Forschung umstritten ist. »Die Darstellung der Instrumente ist so genau, dass man davon ausgehen kann, dass es die Instrumente auch gegeben hat«, so Ulrike Volkhardt. Dagegen spricht die Theorie der Musica Coeli, der himmlischen Musik, denn auf den meisten Darstellungen sind es Engel, die die Instumente spielen. »Es hat sich kein einziges Fragment eines Instrumentes erhalten«, gibt auch Archivar Wolfgang Brandis zu bedenken.

Ulrike Volkhardt hat der Theorie die Praxis folgen lassen. Sie konsultierte Spezialisten aus Musik- und Sprachwissenschaften, Instrumentenkundler und -bauer, Kunsthistoriker und Archivare, um die gefundenen Facetten zu einem Gesamtbild zu formen. »Dennoch bleibt das Bild der Musizierpraxis unvollkommen, da die Überlieferung in den Klöstern größtenteils mündlich erfolgte. Die unterbrochene praktische Überlieferung muss also heute durch kreatives Nach- und Neuempfinden ersetzt werden.« Genau dies tun sie und ihre Mitstreiterinnen von Schola und Ensemble devotio moderna, einem zwölfköpfigen Ensemble, das sich der Wiederbelebung alter Musik aus den Heideklöstern widmet. Auf der Basis von Abbildern aus den Klöstern wurden für das Ensemble eigens Instrumente nachgebaut, so ein Schellenbaum und kleine Glocken, die in Innenräumen verwendet wurden. In Ebstorf fand Ulrike Volkhardt viele Glockentypen, im Kloster Isenhagen Darstellungen von Trommeln, in Lüne Hinweise auf das Musizieren mit dem Zymbalon, einem Saiteninstrument, das mit Schlegeln oder Klöppeln angeschlagen wurde. Und sie fand Musikstücke, die in dem jeweiligen Kloster entstanden sind, wie etwa eine frühe Form der Passion im Kloster Isenhagen. Eine Besonderheit ist das lateinisch-niederdeutsche Osterspiel des Klosters Wienhausen. »In Verbindung mit dem Heiligen Grab dokumentiert es die Einheit von Ort, Sakralkunst und Musik«, so Volkhardt.

Wir wullen alle vrolick syn

Eines der schönsten Lieder heißt Wir wullen alle vrolick syn, es stammt aus dem Kloster Ebstorf und ist noch heute in Gesangbüchern zu finden. Hier wurde auch ein niederdeutsches Liederbuch gefunden sowie ein prächtiges Tonar, ein Lehrwerk zur Musik, das bezeugt, welch wichtige Rolle die Musik und die musikalische Ausbildung im Kloster Ebstorf gespielt haben. »Wunderbare Beschreibungen zeigen den großen emotionalen Reichtum innerhalb der scheinbar strengen Formen der Gesänge. Die Musik tritt ebenbürtig neben die erhaltenen Kunstschätze«, fasst es Ulrike Volkhardt zusammen.