Er heißt mal so, mal so und bleibt dabei doch derselbe

Winterwanderung an einem Bach entlang, dessen Wasser eine weite Reise vor sich hat

INKA LYKKA KORTH / Text / Fotos

Der Traum: blauer Himmel über weißer Winterlandschaft. Die Realität: oben graue Suppe, unten grünbraunes Mischmasch. Statt knackiger Kälte fünf Grad plus und Nieselregen, und so richtig hell werden wird es heute wohl auch nicht mehr. Wer würde bei solchem Wetter freiwillig auch nur einen Fuß vor die Tür setzen! Tatsächlich kaum jemand, und so haben wir an solchen trüben Wintertagen die Welt da draußen fast immer ganz für uns allein.

Auch an diesem Sonntag treffen wir keinen einzigen Menschen auf unserer rund zwölf Kilometer langen Wanderung entlang der Aue von Bokel nach Röhrsen und zurück, noch nicht einmal einen Jäger oder einen Landwirt. Allerdings ist das in dieser Gegend auch gar nicht so ungewöhnlich. Bokel, der Ausgangspunkt unserer Wanderung, gehört zur Gemeinde Sprakensehl, die mit 16,2 Einwohnern je Quadratmeter für deutsche Verhältnisse vergleichsweise dünn besiedelt ist. Als »roten Faden« haben wir uns für die Wanderung diesmal einen Bach ausgesucht, der im Juni 2015 traurige Berühmtheit erlangte – nahezu alle überregionalen Medien zwischen Hamburg und München berichteten darüber –, nachdem aus einer Biogasanlage in Bokel infolge eines technischen Defekts rund 5000 Liter Gärsubstrat ausgelaufen und in den Wasserkreislauf gelangt waren. Die trübe, stinkende Brühe floss in der Aue bis in den Parksee in Bad Bodenteich und ließ dort die Fische sterben und machte aus dem Seepark-Triathlon einen Dulathon, weil der Schwimmwettkampf abgesagt werden musste. Im Gegensatz zu den ökologischen Folgen war der Imageschaden für das Heidedorf Bokel, das stolz auf seine »Ilmenauquelle« ist, eher gering und auch nur von kurzer Dauer. Die Aue, die bis zur Kreisgrenze nach Uelzen gemeinhin als Bokeler Bach bezeichnet wird, entspringt westlich des Ortes in den Wiesen am Heidehof Günne, in unmittelbarer Nähe zur sagenhaften Bullenkuhle, einer unter Naturschutz stehenden, kesselartigen Geländeformation mit Moortümpel. Auf den ersten Kilometern ist der Bach grabenartig ausgebaut. Hinter der Kreisgrenze darf er sich frei bewegen und schlängelt sich, von Erlen gesäumt, als Röhrser Bach durch die Landschaft. Nachdem er Röhrsen passiert hat, wird er erneut in ein wie mit dem Lineal gezogenes Bett gepresst, darf sich dann aber nach einem abermaligen Namenswechsel – jetzt heißt er endlich Aue – wieder munter winden. Er fließt durch Bad Bodenteich und Wieren und vereinigt sich östlich von Stederdorf mit der Esterau zur Stederau, die wiederum aus dem Zusammenfluss mit der Gerdau die Ilmenau bildet, die bei Hoopte nordwestlich von Winsen/Luhe in die Elbe mündet. Der Weg des Wassers lässt sich also von der Ilmenau bis zum Quellgebiet des Bokeler Baches zurückverfolgen. Bokel besitzt somit zwar nicht die Ilmenauquelle, aber immerhin eine der beiden Quellen des größten Flusses der Lüneburger Heide. Das hat die Leute in Röhrsen jedoch nicht daran gehindert, an der Brücke über den Röhrser Bach einen Stein mit dem Namen Ilmenau aufzustellen. Aber bei einem Bach, der so häufig seinen Namen wechselt wie die Aue, kommt es auf eine Bezeichnung mehr oder weniger auch gar nicht mehr an. Hätten die Bienenbütteler ihre Samtgemeinde nicht schon Samtgemeinde Ilmenau genannt, hätten die Bodenteicher und Wrestedter, als sich sich (aus finanzieller Not) 2011 zur Samtgemeinde Aue zusammenschlossen, vielleicht den prestigeträchtigeren Namen für sich reklamiert. Für unsere Wanderung spielt all das keine Rolle, aber wenn wir den Verlauf des Baches auf der Karte betrachten, wird deutlich, dass er Bestandteil eines großen, zusammenhängenden Gewässersystems ist und welche weitreichenden Folgen solche Unfälle wie der auf dem Gelände der Biogasanlage haben können. Wer, wie wir, aus Richtung Hankensbüttel nach Bokel kommt, biegt hinter der Biogasanlage rechts in die Straße Zum Eichhof ab. Wir lassen den Ort hinter uns und halten kurz, bevor die Straße nach rechts schwenkt, auf dem Seitenstreifen.

Von dort gehen wir bis zur Weggabelung, an der ein Stein mit der Aufschrift »Eichhof 600 m« steht. Wir folgen nicht weiter der Straße, sondern nehmen jetzt den unbefestigten Weg, der links am Stein vorbei führt, bis zur ersten Wegkreuzung, an der wir rechts am Waldrand die Gebäude des Eichhofs sehen. Direkt an der Kreuzung, an der wir links abbiegen und ins Auetal hinuntergehen, können wir auf einer Weide einen üppigen Wacholderhain bewundern, der einen faszinierenden Anblick bietet, was man von der grabenartigen Aue nicht unbedingt behaupten kann. Kaum zu glauben, dass so ein kleiner, unscheinbarer Bach einst – die Eiszeit lässt grüßen – mit seinen Wassermassen so ein breites Tal in die Landschaft »gefräst« hat.

So ein kleiner Bach und so ein großes, breites Flusstal!
An trüben, grauen Wintertagen sind die weitläufigen, grünen Wiesen beiderseits des Baches die reinsten Augenweiden.

Allein für dieses saftig grüne Bachtal mit seinen sanften Hängen und den Wacholderhain hat es sich schon gelohnt, hierher gekommen zu sein, sind wir uns einig. 

Oben im Wald wandern wir ein kleines Stück bis zu einer Art Doppelkreuzung – der von links kommende Querweg gabelt sich im Kreuzungsbereich – und nehmen den zweiten der beiden rechts abzweigenden Wege. Diesem Weg folgen wir durch abwechslungsreichen Wald bis nach Röhrsen.

Kiefernnadeln in Augenhöhe am Wegesrand.

Außer zwei Gemüsegärten, in denen stattliche »Winterpalmen« (Grünkohl) wachsen, fällt uns hier eine bemerkenswerte Haustür auf: Sie ist bis in Augenhöhe zugemauert. Bei näherer Betrachtung stellen wir allerdings fest, dass die Steine nur gestapelt, aber nicht mit Mörtel miteinander verbunden sind. Kurios sieht es dennoch aus.

Hinter der Bushaltestelle in der Ortsmitte biegen wir rechts ab und gehen zum Bach hinunter. Auf der linken Straßenseite befand sich früher direkt am Bach eine Wassermühle.

Hier wird die Aue als Ilmenau deklariert.
Der Stein steht an der Brücke in Röhrsen, dem Wendepunkt unserer Wanderung.

Von der Brücke aus betrachtet, wo auch der »Ilmenau-Stein« steht, ist die Aue kaum wiederzuerkennen. Aus dem Graben ist ein hübscher, mäandrierender Bach geworden.

Die Brücke bildet den Wendepunkt unserer Wanderung. Gleich hinter ihr zweigt rechts ein Weg von der Straße ab, der parallel zum Bach verläuft. Wir nehmen ihn. 

An einem Sammelplatz für Feldsteine steht eine Bank, die perfekt ist für eine kleine Pause mit heißem Tee aus der Thermoskanne. Dazu gibt es für uns alle ein paar Kekse – Hundekekse für die Vierbeiner, und Menschenkekse in einer veganen Variante für die Zweibeiner.

Gut gestärkt geht es weiter, uns siehe da: Als Belohnung dafür, dass wir alle so schön aufgegessen haben, öffnet sich der graue Vorhang am Himmel, und ein bisschen Blau blitzt hervor.

Die Freude darüber währt allerdings nur kurz. Wenige Minuten später setzt erneut der Nieselregen ein. Aber das macht nichts, denn wir kommen jetzt wieder in den Wald, und zwar in einem Blaubeerwald, in dem es zu dieser Jahreszeit natürlich nichts zu ernten gibt, und hier machen sich die Baumkronen als Regenschirme nützlich. Auch auf dem Rückweg müssen wir uns nicht als Pfadfinder betätigen. Es geht immer geradeaus, und dennoch wird es nicht langweilig, da die Landschaft am Wegesrand so vielfältig ist, dass unterwegs für reichlich Abwechslung gesorgt ist. Und wir haben ja ohnehin einen Blick für die Details: hier ein pittoresk mit Moos bewachsener Baumstumpf, dort die roten Beeren des Schneeballs und ein Stück weiter eine alte Birke mit tief zerfurchter Rinde.

Wer sagt denn, dass Schneebälle immer weiß sind? Die Früchte des Gewöhnlichen Schneeballs (Viburnum opulus) sind rot.


Für eine Wanderrast nicht unbedingt zu empfehlen, aber hübsch ist sie allemal, die schon fast in die Natur "eingewachsene" Bank.


Als die lange, gerade Wegstrecke endet und auf einen Querweg trifft, biegen wir links ab und gehen am Waldrand entlang. An der nächsten Abzweigung geht es rechts weiter. Wir sind jetzt am Rand des Schweimker Moores. Ein mit Bäumen gesäumter Weg führt durch weitläufige, feuchte Wiesen.

Auf der Höhe eines Weideschuppens, der nicht, wie üblich, aus Holz, sondern aus Steinen gemauert und dennoch schon halb verfallen ist, biegen wir abermals nach rechts ab.

Es geht an alten Fischteichen vorbei und über den Ahrenbach hinweg durch die Wiesen.

Der Weg steigt leicht an. Am Waldrand kommen wir an der Stelle vorbei, an der einst das Forsthaus Grube stand, das bis zum 19. Jahrhundert eine wichtige Raststätte an der einst hier verlaufenden mittelalterlichen Fernhandelsstraße war (mehr darüber im Fahrradexkursionsführer »Entdeckertour« zu Kulturdenkmälern in der Samtgemeinde Hankensbüttel von Dr. Henning Tribian (Calluna-Verlag, 4,50 Euro).

Die Wüstung Grube, die nur noch aus einem Steinhaufen besteht, war einst Schauplatz von Spukgeschichten. Der bis heute in Hankensbüttel verehrte Schriftsteller Karl Söhle erzählt eine davon in seinem 1918 erschienenen Buch »Schummerstunde – Bilder und Gestalten aus der Lüneburger Heide«. Im Mittelpunkt der schaurigen Erzählung »Die Grube« steht der dort tätige Förster. Faszinierend ist, wie Söhle die Landschaft beschreibt: 

»Im einsamsten Winkel vom Amte Isenhagen, ..., da senkt die Heide tief sich herab zu einer weitgedehnten Mulde, die Grube genannt. Ein wüster Fahrweg quält sich durch den Bleisand, auf die Stadt Uelzen zu. Nur selten ist ein Wandersmann darauf zu erblicken, noch seltener ein Gespann. ... Öde ist's in der Grube, gottverlassen öde. Nur der Wacholder gedeiht. Hier und da noch spärliche Siedlungen krüppelligter Zwieselfuhren, einzelne Kummerbirken, doch sonst kein grünes Laubblatt und nicht die Spur von Leben weiter ...«

Hätten wir nicht zuvor die Erzählung gelesen, hätten wir diesen Ort gar nicht als schaurig empfunden. Im Gegenteil: Von der Wüstung am erhöht gelegenen Waldrand aus wirkt die Grube heutzutage alles andere als abweisend. Aber wir können uns lebhaft vorstellen, wie mühsam es für die Gespanne gewesen sein muss, sich durch den Heidesand den Hang hinaufzuquälen. Das Bild vom »Bleisand« passt durchaus. 

Wir gehen geradeaus weiter, bis wir wieder auf den Wacholderhain an der Wegkreuzung treffen, die wir bereits auf dem Hinweg passiert haben. Von dort brauchen wir nur noch ein paar Minuten, bis wir wieder zurück am Auto sind.

Und hier ist die Karte zu unserer 11,6 km langen Wandertour: