Ein Schwamm namens 
Multistella leipnitzae

Heilwig Leipnitz machte wissenschaftliche Entdeckung

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos 

Es gibt Leidenschaften, die niemals abkühlen. Für Heilwig Leipnitz ist es die Begeisterung für Brachiopoden. Zugegeben, diese Passion für prähistorische Armfüßer wird bei den meisten Menschen anfangs womöglich für Ratlosigkeit sorgen. Doch wer von der Uelzenerin erst einmal durch ihre umfangreiche Sammlung geführt worden ist, kann ihre Faszination von der spannenden Welt der Versteinerungen, Mineralien und Geschiebe nachvollziehen und wird davon möglicherweise sogar angesteckt.

Bereits im Erdgeschoss des funktionalen Wohnhauses in der Uelzener Birkenstraße reihen sich in einem langen schmalen Korridor Glasvitrinen aneinander. Dicht an dicht sind darin alle Arten von Steinen aufbewahrt. »Hier gibt es einen ersten zeitlichen Überblick«, erläutert Heilwig Leipnitz. »Aber die Erkenntnisse ändern sich selbstverständlich immer wieder, die Forschung schreitet ja voran. Da kann sich die Einordnung schon einmal um ein paar Milliönchen verschieben.«

Heilwig Leipnitz ist buchstäblich steinreich, ihr Haus ein Steinreich.

Wer sich mit Steinen beschäftigt, denkt vermutlich in anderen zeitlichen Kategorien, als Menschen es normalerweise gewohnt sind. So geht es auch Heilwig Leipnitz. Sie ist fast 90 Jahre alt, den aktuellen Forschungsstand hat die lebhafte Frau jedoch stets parat. »Die Menschheitsgeschichte beschränkt sich innerhalb der Erdgeschichte ja nur auf einige Sekunden. Und wenn wir einmal nicht mehr da sind, wird die Natur sich sehr schnell wieder erholen«, meint die alte Dame und lädt ins Obergeschoss. Hier sind auf etwa 70 Quadratmetern viele Millionen Jahre Erdgeschichte versammelt – in Form von Steinen jeglicher Art. Sie lagern auf dem mehrere Meter langen Arbeitstisch, in Vitrinen und in zahllosen Schubern, die Reihe an Reihe in Wandregale und unter der großen Arbeitsplatte eingebaut sind.



Kleinste muschelähnliche Fossilien tummeln sich einvernehmlich in der Nachbarschaft von Korallen und Schwämmen, Versteinerungen zeigen die Formen kleiner und großer Kopffüßer, prähistorischer Fische oder Pflanzenabdrücke. Da liegen Hölzer, die über und über von Gängen durchbohrt sind – Zeugnis vieler fleißiger Bohrmuscheln – , Schnecken, ein Nautilus und diverse Feinschliffe. Und von jedem Stück weiß Heilwig Leipnitz eine Geschichte zu erzählen. »Das ist die Hohlform von einem Krebswohngang und das hier ist die Ausfüllung eines solches Ganges. So etwas kann man auch im Geschiebe finden. Die Krebse haben ihre Wohngänge mit Kotpillen ausgepolstert. Auf diese Art wurde das Sediment zusammengehalten und darin lebten sie«, zeigt Heilwig Leipnitz auf einen im ersten Moment unscheinbar erscheinenden grauen Stein mit passendem Gegenstück.

Bohrmuscheln haben dieses Stück Holz bearbeitet.

Es bedarf schon eines geschulten Blickes, um die Zeugnisse vergangenen Lebens im Stein zu entdecken. Wenn man nur gut hinschaut, eröffnet sich aber eine so vielfältige und reiche Welt, dass der Beschauer Gefahr läuft, selbst von der Steine-Leidenschaft erfasst zu werden.

»Mit der Zeit entwickelt man einen Blick dafür«, ist sich Heilwig Leipnitz sicher. Sie selbst hat ihr Wissen stets durch zusätzliches Literaturstudium erweitert. Wichtig sei aber nicht nur das Schauen und Studieren. »Man muss die Steine auch anfassen können, um ein Gefühl für die Struktur und das Material zu bekommen«, meint sie. Und wenn sie einmal einen Fund nicht einordnen kann, scheut sie sich nicht, Fachleute hinzuzuziehen. Obwohl – eine kompetente Fachfrau ist die Autodidaktion ja längst selbst. »Hier sehen sie die Grenze zwischen Kreide und Tertiär«, hält sie einen Stein mit verschiedenen Einschlüssen in die Höhe. »Hier sind noch Kreidefossilien zu sehen, Reste von Seeigeln und kleine Cranien, also Armfüßer, die gerne mit Muscheln verwechselt werden, mit diesen aber nicht verwandt sind. Und dazwischen sind die ersten Tertiär-Fossilien zu finden.«

Ein Stein – ein Schlaglicht auf die Erdgeschichte. Das Klima auf der Erde war im Zeitalter des Tertiär, das vor etwa 66 Millonen Jahren begann, wesentlich wärmer als heute. Nach dem Aussterben der Dinosaurier entwickelten sich damals nach und nach die Säugetiere zu den beherrschenden Landtieren auf der Erde.

Ganz nebenbei ist Heilwig Leipnitz bei ihren Exkursionen auch der Mineralogie nahe gekommen. Das bliebe eben nicht aus, wenn ein Fund neugierig mache. Die Neugier trieb sie auch an, einen Stein, der auf den ersten Blick wie ein Stück Holz aussieht, aber mit einer feinen Trennlinie versehen ist, näher zu untersuchen. »Dieser ist im Alttertiär entstanden, als es die großen Vulkanausbrüche in Südschweden gab«, erklärt sie. »Die ausgetretene Vulkanasche lagerte sich in einer Schicht ab und zog Kalk an, der wiederum Kristalle bildete, die in zwei Richtungen wuchsen. Diese Kristalle kommen in verschiedenen Farben vor und können zu schönen Schmuckstücken verarbeitet werden.« Auch wer glaubt, dass Bernstein lediglich an der Küste zu finden ist, wird bei Heilwig Leipnitz eines Besseren belehrt. Auf ihren Kiesgruben-Exkursionen fand sie große Bernsteine, die während der Eiszeiten in unsere Region transportiert worden sind.

Sortiert ist ihre Sammlung nach Erdzeitaltern. »Zuerst sammelt man alles, was interessant aussieht«, sagt sie, als das Material aber mehr und mehr wurde, war es ihr wichtig, Ordnung in die Sammlung zu bringen. Besonders wichtig für die wissenschaftliche Auswertung sei die Dokumentation des Fundortes. Eine Vorliebe hat Heilwig Leipnitz auch – und diese gilt eben den Brachiopoden. Warum es ihr ausgerechnet die Armfüßer angetan haben, kann sie selbst nicht so genau sagen, es seien einfach außerordentlich interessante Tiere. »Es gibt so unterschiedliche Formen, ganz verrückte Sachen«, begeistert sie sich und zieht einen weiteren Schuber hervor. Und tatsächlich, die kleinen, muschelähnlichen Schalentiere gibt es millimeterklein bis handgroß in verschiedenen Formen. Als lebende Fossilien sind noch heute Vorkommen dieser ehemals weit verbreiteten Tierart bekannt.

»Biologie war schon in der Schule eines meiner Lieblingsfächer«, erinnert sich Heilwig Leipnitz. »Manche meiner Freundinnen wollten Friseurin werden, aber ich wollte immer Afrikaforscherin werden«, erzählt sie. Das mit Afrika hat nicht geklappt, dafür hat sie sich später der Geologie verschrieben.

Faszinierend, was sich so alles in den uralten Steinen entdecken lässt.

Heilwig Leipnitz ist in Hamburg geboren und hat in der Hansestadt ihre ersten Kindheitsjahre verlebt. Als sie acht Jahre alt war, zogen ihre Eltern nach Uelzen. Nach der Hochzeit mit Gottfried Leipnitz im Jahr 1948 wohnte die junge Familie zunächst in Hamburg. »Ich habe in die Ehe einen Seeigel und einen Wilnit mitgebracht und mein Mann eine kleine Schachtel voller Mineralien«, lacht Heilwig Leipnitz. Kein Wunder, dass die beiden später viele Urlaube mit Suchen und Sammeln verbrachten. Zunächst aber galt es, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, nach der Rückkehr nach Uelzen ein Heim herzurichten und die Kinder auf den Weg zu bringen. Ende der 1960er Jahre hatte die Familie wieder mehr Freiräume, und Heilwig Leipnitz füllte diese mit ihrer Begeisterung für Steine. »Ich habe mich zunächst hier in den Kiesgruben umgeschaut, und irgendwann war mit das nicht mehr genug. Also zog ich einen Freund zu Rate.« Der nahm sie nicht nur mit auf Exkursionen, sondern empfahl auch den Kontakt zur Arbeitsgruppen der Geschiebesammler in Hannover und Lüneburg, zu deren Treffen sie immer noch regelmäßig fährt.

Besonders schön sind auch die versteinerten Korallen.

Viele Stücke ihrer Sammlung stammen von Reisen in den Norden, oft an die Steilküsten Gotlands. »Ich habe dann mit der Kopflupe am Hang gelegen und mein Mann ist langsam weitergewandert. Er war fast zwei Meter groß und wenn er in seiner Höhe etwas Schönes gesehen hat, dann hat er das eingesammelt.« Seine Funde zeigte er abends seiner Frau mit der Frage, ob sie mitgenommen oder doch wieder weggeworfen werden sollten. Für seine Toleranz und Unterstützung ist ihm Heilwig Leipnitz bis heute dankbar. »Ich hatte einen so guten Mann, der mich in jeder Weise unterstützt hat«, sagt sie. Einmal wurden die beiden auf der Rückfahrt von Schweden von einem Zöllner darauf hingewiesen, dass ihr VW Käfer wohl falsch beladen sei, er läge so seltsam auf der Straße. Es war aber das Gewicht der Steine, das für eine Unwucht des kleinen Fahrzeugs gesorgt hatte. Wie viele Tonnen inzwischen in ihrem Haus in der Uelzener Birkenstraße lagern, das weiß sie nicht zu sagen. 

Mit einigen ihrer Fundstücke konnte Heilwig Leipnitz sogar einen neuen Forschungszweig anstoßen: Sie entdeckte einige Schwammarten, die die Wissenschaft mit dem Ende des Zeitalters des Ordovizium vor etwa 443,4 Millionen Jahren für ausgestorben erklärt hatte, weil damals eine Kälteperiode eingesetzt hatte. Doch sie entdeckte diese Schwammarten auch in jüngeren Erdschichten und gab sie nach Stockholm ins Museum, wo man ihre Funde zum Anlass für weitere wissenschaftliche Untersuchungen nahm. »Es erschien eine ganze Arbeit darüber und ein Schwamm mit kleinen Sternenmustern hat sogar meinen Namen bekommen. Es hat mich sehr gefreut, dass ich ein wenig für die Wissenschaft beitragen konnte.« So kommt es, dass es seit einigen Jahren einen Schwamm namens Multistella leipnitzae gibt. In der 2014 erschienenen englischsprachigen Monografie Fossils and Strata schreiben die Geologen Rhebergen und Botting dazu: »Named in honour of Mrs. Heilwig Leipnitz (Uelzen, Germany), who collected nearly all of the material discussed herein, including most of the specimens of this new taxon.« Dank Heilwig Leipnitz ist Uelzen seither international bekannt – zumindest unter Geologen.

Die Steine verraten viel über das  Leben auf dieser Erde vor Millionen von Jahren.