Die ältesten Brillen der Welt

Vor 700 Jahren wurden die Gestelle der Sehhilfen aus Buchsbaumholz gefertigt,
wie die Funde im Kloster Wienhausen zeigen

CHRISTINE KOHNKE-LÖBERT / Text / Fotos 

Eine Nonne mit Brille auf der Nase hat die Priorin des Klosters Wienhausen bei Celle, Brigitte Brockmann, noch nie gesehen – zumindest nicht auf alten Abbildungen oder gar in Form einer Skulptur. Und wenn ich in meinen Erinnerungen an Kirchen-, Klöster- und Museumsbesuche krame, dann muss ich ihr recht geben. Eine gotische Madonna mit Jesuskind auf dem Arm und Brille auf der Nase – das käme mir fast komisch vor. Abbildungen von Brillen finden sich ohnehin nicht sehr oft in der mittelalterlichen Kunst, und wenn doch, dann ist es garantiert ein Mann, der eine trägt. »Männer mit Brillen habe ich schon einige gesehen«, erzählt die Priorin, von den Aposteln bis hin zu Josef kommen Brillenträger vor. 

Auch ich habe vor zwei Jahren im Urlaub im Kölner Schnütgen-Museum einen Propheten aus dem frühen 16. Jahrhundert entdeckt, der sich zur Entzifferung seiner Textfahne einer Lesehilfe bedient. 

Weitere Zeugnisse finden sich beim Stöbern im Internet: Eine besonders schöne Nietbrille hält sich Petrus auf dem Altar der Jacobskirche in Rothenburg ob der Tauber beim Bibelstudium vor die Augen. Und auch der Hohe Priester auf selbigem Altar von 1466 hat sich bei der Beschneidung Jesu lieber eine Brille auf die Nase gesetzt.

Frauen mit Brille dagegen – Fehlanzeige. Dabei waren die Nonnen in den Klöstern der Lüneburger Heide mit Sicherheit hoch gebildet. Nur wollte noch vor gar nicht langer Zeit die männerdominierte Welt der Wissenschaftler wenig davon wissen. Den Nonnen des Klosters Ebstorf zum Beispiel traute man nicht zu, die Ebstorfer Weltkarte gezeichnet zu haben. Zumindest ein Abt müsse dabei gewesen sein und sie angeleitet haben, meinten die Geschichtsforscher früherer Zeiten – und kramten gerne den gelehrten Gervasius von Tilbury als Lehrmeister hervor. Der war es nicht, das weiß man heute, und wir sind ohnehin überzeugt, dass die Ebstorfer Nonnen das sehr gut allein gekonnt haben. Lesen konnten die Damen in den Lüneburger Frauenklöstern auf jeden Fall, warum sonst hätten sie im Nonnenchor des Klosters Wienhausen so viele Brillen verloren? Als diese im Jahr 1953 unter dem Chorgestühl gefunden wurden, war das eine Sensation. 

»Die älteste Brille stammt aus dem 14. Jahrhundert, sie besteht aus zwei Hälften. Die Teile der Fassung waren mit Nieten zusammengefügt«, erläutert der Leiter der Lüneburger Klosterarchive, Wolfgang Brandis. Viele der Brillen sind nicht mehr vollständig oder auseinandergefallen. Wobei man nicht weiß, ob sie vielleicht erst nach dem Hinabfallen kaputtgingen, etwa, weil die Nieten im Laufe der Jahre rosteten und sich so die Verbindungen lösten.

Die einzigartigen Funde lagen im Fußraum zwischen den beiden Sitzreihen des Chorgestühls. Dieser ist etwas erhöht und war zur Erbauungszeit um 1330 mit breiten Eichenbohlen ausgelegt worden. In Verlaufe von mehr als 600 Jahren schrumpften die Bohlen und es taten sich breite Schlitze dazwischen auf. Natürlich fiel hin und wieder etwas hinein – und weil all die kleinen Gegenstände kaum wieder herauszubekommen waren, gerieten sie nach und nach in Vergessenheit und blieben Jahrhunderte lang unter den Füßen der Nonnen und später der Konventualinnen liegen.

Jahrhunderte lang lagen die Brillen im Fußraum des Chorgestühls

Am 22. September 1953 ließ die damalige Äbtissin Luise Friedrichs, nach dem Fund eines kleinen Hausaltars im Chorgestühl des Klosters Isenhagen neugierig geworden, im Wienhäuser Nonnenchor die erste Bohle aufnehmen. Es muss ein ganz besonderer Augenblick gewesen sein. »Staunend standen wir vor der langen offenen Strecke, die bis oben hin mit grauem Staub angefüllt war. Ein gefalteter Pergament-Bogen lugte aus dem Staub hervor. … In der Nähe der Wand wurde die Staubschicht dünner. Dort lagen einige Hefte, außen zwar sehr verschmutzt, innen aber so schön, als seien sie eben geschrieben.« So beschreibt die ehemalige Restauratorin des Klosters, Gertrud Irwahn, den Moment. Die eigenartigsten Dinge fanden sich im Gestühl: Ruten, Eierschalen, Webebrettchen, Stöckchen, Lumpen, zerknülltes Papier, Glasscherben, Geldstücke, Spindeln, Hefte in allen erdenklichen Formaten – und Brillen, die ältesten bislang bekannten überhaupt.

Unter den Fundstücken waren auch diese vier noch gut erhaltene Brillen.
»Ich habe in anderen Ländern Dinge aus Glas gesehen, die an eine Welt von morgen denken lassen, in welcher das Glas nicht nur im Dienst der Verehrung Gottes und seiner Kirche stehen wird, sondern auch im Dienst der Menschen, um ihnen zu helfen, ihre Schwächen zu überwinden. Ich möchte Dir gern ein Werk unserer Tage zeigen, von dem ich mich glücklich schätze, ein überaus nützliches Exemplar zu besitzen.« Mit diesen Worten griff William in seine Kutte und zog zur Verblüffung unseres wackeren Meisters seine Augengläser hervor. Nicolas nahm das Gerät, das William ihm reichte, mit großer Neugier in beide Hände. »Oculi de vitro cum capsula!« rief er bewundernd aus. „Ich habe davon schon gehört. Ein gewisser Fra Giordano, den ich früher einmal in Pisa kannte, sagte mir damals, sie seien vor etwa zwanzig Jahren erfunden worden. Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her.« »Ich glaube, dass die Erfindung viel älter ist", sagte William. »Aber die Herstellung ist sehr schwierig und verlangt erfahrene Hände. Sie kostet Zeit und Arbeit. … Ich habe diese kostbaren Gläser so sorgsam gehütet, als wären sie – was sie inzwischen tatsächlich geworden sind – ein Teil meines Körpers. … Bedenke, dass die Form und Dicke der Linsen verschieden sein muss, je nachdem, an welches Auge sie sich anpassen sollen. Man muss eine ganze Reihe von Linsen direkt am Patienten ausprobieren, bevor man die richtigen für ihn gefunden hat.« »Wahrlich ein Wunder, ein echtes Wunder!« staunte Nicolas.

Neugierde und Staunen herrscht, als der Benediktiner William von Baskerville in Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« – die deutsche Übersetzung erschien 1982 im Carl Hanser Verlag, München – seine Augengläser hervorholt. Etwa so muss es gewesen sein, als sich die Erfindung von Italien aus rasch nach Norddeutschland ausbreitete. Der Roman spielt im Jahr 1327 – und ungefähr so alt sind auch die ältesten Brillen aus dem Kloster Wienhausen. Es handelt sich um Nietbrillen, die uns nicht nur einen Blick auf das Leben der Bewohnerinnen des Klosters werfen lassen, sondern auch dabei helfen, ein altes Rätsel der Kunstgeschichte zu lösen. Denn schon bald nach der Erfindung der Brille taucht diese erstmals auf Kunstwerken auf, so etwa im italienischen Treviso. Im Jahre 1352 wird der Maler Tomaso da Modena beauftragt, den Kapitelsaal des dortigen Dominikanerklosters auszumalen. Unter seinen Fresken befindet sich auch die Darstellung eines Kardinals mit einer damals brandneuen Sehhilfe. Die Zeichnung ist so detailliert, dass die Art der Fassung zu erkennen ist – es handelt sich um eine Nietbrille. Nur wusste man anhand des Bildes nicht, aus welchem Material sie gefertigt war. Das Rätsel konnte nun gelüftet werden. Die Brille von Thomaso ist von genau derselben Art, wie die in Wienhausen gefundenen ältesten Fassungen und sie bestehen aus Buchsbaumholz. Um sie zu fertigen, wurden zwei Millimeter dünne Brettchen in Form geschnitten, sodass zwei runde Glasfassungen, jede mit einem Stiel versehen, entstanden. An den Stielen fügte man die beiden Fassungen mit einem Niet zusammen, in die schmalen Innenkanten der Fassungen wurde eine Nut geritzt. Hier setzte man das Glas ein. Die Brille wurde auf der Nase festgeklemmt, fiel aber leicht wieder herunter. Deshalb musste der Niet fest angezogen werden, was häufig zum Zersplittern der Fassungen führte. Nach und nach wurde die Form der Brillen modifiziert. »Anhand der Wienhäuser Funde kann diese Entwicklung nachvollzogen werden«, erläutert Wolfgang Brandis.

Wolfgang Brandis zeigt eine Holzfassung mit Nut für das Brillenglas.
»Unglaublich hohe Qualität« 

Den Holzbrillen folgen Objekte aus Holz und Leder, im 16. Jahrhundert bestehen die Brillen dann gänzlich aus Leder. »Je jünger die Brillen werden, desto ähnlicher sind sie heutigen Formen. Die Gläser bestehen aus geschliffenem Glas und haben eine unglaublich hohe Qualität.« Der Archivar ist immer wieder beeindruckt von der Leistung der damaligen Handwerksmeister. Immerhin gehören die Wienhäuser Gläser zu den ältesten Linsen der Welt. Die Nietbrillen waren ausschließlich für Weitsichtige bestimmt und haben Stärken von 2,25 bis 3,75 Dioptrien, das Herstellungsverfahren stammt vermutlich aus Venedig. »Eine Theorie ist, dass aus einer Glaskugel Stücke herausgestochen und deren Unterseiten dann glattgeschliffen wurden«, so Brandis, der weitere Untersuchungen an den Linsen als eine spannende Aufgabe für die Zukunft ansieht.

Selbstverständlich hat es auch in den anderen Lüneburger Klöstern Brillen gegeben, aus Isenhagen ist eine halbe Nietbrille bekannt und im Kloster Lüne fand sich eine Lederbrille. Die Funde aus Wienhausen aber bleiben in ihrer Vielfalt einzigartig. Sie werfen ein kleines Schlaglicht auf den Alltag in den Klöstern, über den wir heute nicht mehr viel wissen. »Das Alltagsleben ist für mich das Geheimnisvollste am Kloster«, sagt Priorin Brigitte Brockmann. »Wir haben kleine Einblicke gewonnen, aber vieles ist uns unbekannt. Und dies und jenes Geheimnis sollte ein altes Haus auch bewahren.«