Eine Schutzmauer, die Fremde und Feinde fernhält, gibt es in Hannover lange nicht mehr. Vielmehr verbindet heute der alte Stadtwall: Neuankömmlinge, Touristen und Einheimische treffen sich dort, um Hannoveraner Geschichte zu erfahren. Doch es gibt andere Mauern hier, die trennen, die angeblich schützen, von und vor Menschen wie Siavash.

Der 27-jährige Afghane lebt seit drei Jahren in Hannover. Er ist als Flüchtling geboren. Seine Eltern flohen vor mehr als 30 Jahren aus dem von Russen und Taliban zerstörten Afghanistan in den Iran. Das Land seiner Eltern, seiner Muttersprache, seiner Wurzeln, lernte er nie kennen. Den Iran als Heimat bezeichnen? „Ich muss lachen", sagt Siavash. „Dort darfst du als Afghane nur zwei Dinge: sterben oder nach Afghanistan zurückkehren.“ Sie mussten sich durchkämpfen, in einem Land, das sie nicht wollte und dieses offen zeigte.

Ständig haben sie aufpassen müssen, nicht aufzufallen, niemanden zu verärgern. „Das Problem war, dass allein unsere Herkunft Grund genug sein konnte, um von der Polizei verprügelt zu werden“, sagt Siavash. Nach der Schule ließ uns meine Mutter meistens nicht mehr aus dem Haus“, erinnert er sich. Siavash und seine Familie sowie Hunderttausende andere geflüchtete Afghanen im Iran leben und leiden im Schatten der Vorurteile, die viele Menschen dort gegen sie haben. „Ich wollte nur weg aus diesem Ort, endlich eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft haben.“

2013 verließ er den Iran. Ließ seine Familie schweren Herzens zurück. „Die Flucht war eine schwere Zeit, aber die Hoffnung war größer als die Angst“, sagt Siavash. In Deutschland fand er einen sicheren Hafen.

„Es ist ein gutes Land, aber ein kaltes Land. Ich fühle mich einsam.“ Siavash hat in Hannover zwar eine deutsche Familie kennengelernt, darf hier Deutsch lernen, ins Fitnessstudio, doch immer wieder stößt er auch hier auf Vorurteile, spürt eine Wand zwischen ihm und den anderen.

Warum wir alle Mauern im Kopf haben

Ob wir wollen oder nicht: Wenn wir einen Menschen sehen, urteilen wir über ihn. Das macht unser Gehirn automatisch, denn es will uns vor Gefahren schützen. Es hat noch nicht verstanden, dass wir nicht mehr in der Steinzeit leben.

Wer den Begriff Flüchtling hört, hat sofort Bilder im Kopf – und es sind vielleicht nicht nur positive. Aber warum? Und wie entstehen diese Bilder?

„Unser Gehirn hat eine ganz eigene Sicht auf die Welt", erklärt der deutsch-koreanische Neurowissenschaftler Dong-Seong Chang. Er untersuchte am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, wie Wahrnehmung unser Denken und Handel beeinflusst. In seinem Buch „Mein Hirn hat seinen eigenen Kopf“ stellte er nun seine Ergebnisse vor. „Das Gehirn kombiniert den bescheidenen Ausschnitt an Informationen, die ihm von den Sinnesorganen geliefert werden, mit den Erfahrungen, die es bereits abgespeichert hat“, schreibt Chang. Mit der Vielfalt und Komplexität der Welt ist unser Denkorgan aber überfordert. Und so bilden wir seit der Kindheit Schubladen, mit deren Hilfe wir die Welt kategorisieren. So führen unsere Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen und die verschiedenen Kategorien in unserem Kopf dazu, dass jeder von uns die Welt anders sieht.

Hören wir also den Begriff Flüchtling, haben wir sofort Bilder im Kopf – aber durchaus sehr unterschiedliche. Bei diesem Prozess wirke sich dazu häufig die gesteuerte Auswahl von Informationen aus, die uns angeboten werden oder die wir uns selbst aussuchen, so der Wissenschaftler. Medien spielen dabei eine große Rolle. „Sie picken heraus, was wir erfahren sollen. Aber auch wir selbst beschränken unsere Sicht auf die Welt durch eine gefährlich einseitige Vorauswahl: Wir wählen unsere Nachrichtenquellen selbst aus und umgeben uns vorzugsweise mit Menschen, die auf möglichst vielen Gebieten dieselben Ansichten vertreten wie wir“, so Chang. Das gibt uns zwar Sicherheit: Wir fühlen uns bestärkt. Es bringt aber mit sich, dass wir uns selbst die Scheuklappen aufsetzen.

Die Urskepsis

Anders verhält es sich, wenn wir jemandem zum ersten Mal begegnen. Da arbeitet unser Gehirn nach einem anderen Muster – und da zählt vor allem Schnelligkeit. „Das hat seinen Ursprung in der Entwicklung des Menschen. Zum Überleben brauchten sie meist nur zwei Schubladen: ‚Ungefährlich' und ‚Könnte gefährlich sein‘“, erklärt Chang. Könnte dieses Knistern im Waldboden von einem Säbelzahntiger oder einem Mitglied meiner Jagdtruppe stammen? Kann ich bleiben oder muss ich wegrennen? Diese Urskepsis war überlebenswichtig und hat sich tief in unser Gehirn eingebrannt – gerade bei Begegnungen mit anderen Artgenossen. Denn neben Säbelzahntigern gehören seit Urzeiten fremde Menschen zu unseren größten Gefahren. Wir kämpfen seit jeher gegeneinander um Vorräte, Sexualpartner oder Jagdreviere.

„Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass wir gelernt haben nur den Mitgliedern unserer Gruppe zu trauen“, schreibt der Neurowissenschaftler. Aber wie erkennen wir, wer zu uns gehört? „Das Gehirn nutzt dafür jedes erdenkliche Anzeichen, angefangen mit den sichtbaren Unterschieden bis hin zu kaum Merklichen Abweichungen von der Gruppennorm“, erklärt Chang. So sehen wir eine andere Hautfarbe erst mal als fremd an. Spricht die Person eine andere Sprache, outet sie sich ebenfalls als fremd. Und auch die Kleidung sagt aus, ob jemand zu unserer Gruppe gehört oder nicht.

Diese – unbewusste – Einordnung in „Mitglied meiner Gruppe“ oder „Gruppenfremd“ bestimmt bis heute, wie wir bei der ersten Begegnung denken und handeln. Das wird gefährlich, wenn es dadurch zu Ausgrenzung kommt. Dann kann schnell aus einem Stereotyp Rassismus werden.

Sind wir machtlos gegenüber unseren Urinstinkten? Die Wissenschaft gibt eine eindeutige Antwort: Nein. „Unser Gehirn ist fähig umzudenken“, beruhigt Chang. Das Mittel gegen die Angst ist laut dem Forscher seinen Horizont immer wieder zu erweitern. Denn: Je mehr Informationen unser Gehirn sammelt, je mehr Menschen es kennenlernt, desto größer ist der Erfahrungsschatz, mit dem es Neuem begegnet. Dabei müssen wir mehr wie Kinder sein, rät der Wissenschaftler: Sie sind noch unvoreingenommen.

Sich die vorgefertigten Bilder und Urteile selbst einzugestehen, ist der erste Schritt, die Mauern im Kopf einzureißen. Doch was passiert, wenn man sich deren Existenz gar nicht erst bewusst ist?

Der Kampf gegen die Vorurteile

Vorurteile wirken wie eine Wand, die uns davon abhält, die Welt und ihre Wunder zu sehen. Zum Glück reicht manchmal schon eine Begegnung aus, um die Mauer bröckeln zu lassen. Ein Essay.

Als ich Siavash kennenlernte, war er ein großes Fragezeichen für mich. Ich bin Journalistin und habe die Flüchtlingskrise von Anfang an begleitet. In der Onlineredaktion habe ich die harten Fakten zusammengetragen: Zahlen, politische Reaktionen. Immer aktuell, aber nie nah dran. Für mich hatte die Flüchtlingskrise kein Gesicht. Als ich Siavash zum ersten Mal traf, musste ich mir eingestehen, wie wenig ich doch eigentlich wusste.

Ich betrat die Flüchtlingsunterkunft mit einem mulmigen Gefühl. Zu oft hatte ich über die Probleme in solchen Einrichtungen geschrieben. Gewalt, Überforderung der Behörden, alles leicht chaotisch. Aber die Neugier hatte mich gepackt: Ich wollte sehen, was wirklich im Mikrokosmos der Flüchtlingskrise passiert. Und ich wollte helfen.

Für ein Kunstprojekt bot ich an, die Geschichten zu Siavash' Bildern aufzuschreiben. Der schmale 27-jährige Afghane malt tief emotionale Werke, die mich von Anfang an berührten. In seinem karg eingerichteten Zimmer hat er sie alle ausgestellt, als wäre es eine Galerie. Ich schaue auf düstere Landschaften und schneebedeckte Berge auf großen Leinwänden.

„Ich möchte erzählen, warum ich dieses Bild gemalt habe. Das Bild ist traurig, weil meine Geschichte traurig ist", fängt er an. Schnell greife ich zu meinem Notizblock und krame nach einem Stift. Er erzählt von seiner afghanischen Familie, die noch im Iran lebt. Von den Schuldgefühlen, sie dort für ein besseres Leben zurückgelassen zu haben und vom Leben und Leiden der Afghanen im Iran. Schnell habe ich vier Seiten Notizen zusammen.

Bei unseren folgenden Treffen sprechen wir auch über die kleinen Dinge des Lebens. Zum Beispiel darüber, wo es den besten Döner gibt. Ich lebe schon lange in Hannover, und nie war mir vorher dieser kleine Imbiss in der Innenstadt aufgefallen. Siavash bestellt für mich mit. „Zwei Mal Menü eins mit Cola, bitte.“ Bevormundet er mich? Was, wenn ich etwas anderes bestellen wollte? Da waren sie, die gefährlichen Vorurteile, obwohl ich wusste, dass Siavash ein Befürworter der Emanzipation ist. Außerdem hätte ich nur das bestellt, was ich sonst immer bestelle.

Immer wieder zeigte mir Siavash Neues, das leckere Menü eins vom kleinen Imbiss, eine Abkürzung zum Hauptbahnhof durch eine Tiefgarage. Es traf mich wie ein Blitz: Ich esse meistens dasselbe, nehme dieselben Wege. Ich komme aus Peru, bin viel gereist. Ich dachte, ich wäre offen, toleranter als andere Menschen. Mein Leben war festgefahren. Und Siavash öffnete mir dafür die Augen.

Einmal fragte ich Siavash wie er sich fühle, bei den vielen negativen Nachrichten um Geflüchtete. Sein sonst so fröhliches Lächeln verschwand. „Hast du Angst vor mir?“ fragte er. Hätte ich Angst, würde ich wohl kaum abends alleine in seinem Zimmer sitzen, dachte ich. Ich wollte ihm eigentlich sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Und nun das. „Du wirkst immer cool, aber deine Augen haben es mir verraten", sagte er. Es kam ein Gefühl auf, dass ich während unseren Treffen mit all meiner Kraft versucht habe zu verdrängen. Es war keine Angst, es fühlte sich an wie eine Mauer. Ich musste die Tränen unterdrücken. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Jahre, die Anschläge, die Unsicherheit, die Täter, waren nie aus meinem Kopf verschwunden und prägten, ob ich wollte oder nicht, mein Bild von Siavash. Ich hatte mich dagegen gewehrt. Aber er hatte mich durchschaut. „Ich umarme dich jetzt", sagte er. Ich nickte. Und er umarmte mich, fest und ruhig. "Ich möchte nicht, dass du Angst hast. Ich bin ein Mann aus Afghanistan, du bist eine Frau aus Peru. Aber wir sind Menschen, wir sind gleich, ich möchte, dass du das so siehst." Er zitterte. Ich umarmte ihn.

Als ich Siavash traf, dachte ich, ich könnte ihm etwas beibringen – über das Leben, über unsere Kultur. Ich dachte, er könnte etwas von mir lernen. Am Ende hatte er mir die wichtigste Lektion erteilt. Die über Menschlichkeit.

Die Autorin:

Halb deutsch, halb peruanisch – ganz Weltbürgerin. Andrea Brack pendelt zwischen Ländern und Kulturen und findet, dass ein gut gedeckter Tisch Menschen verbindet.